: Nichts mehr zu verlieren
Auf der Suche nach ihren Angehörigen sind die Frauen aus Srebrenica zu allem entschlossen. Statt Hilfe gibt es für sie leere Versprechungen ■ Aus Tuzla Georg Baltissen
„Wenn nicht bald etwas geschieht, gehen wir zu Fuß nach Srebrenica, mit internationalem Schutz oder ohne“, sagt Alma Husić. Sie ist Mitglied im Komitee der „Aktiven Frauen aus Srebrenica“, die vehement Auskunft über das Schicksal ihrer vermißten Männer und Söhne fordern. Auch Alma Husić weiß nichts über ihren Mann, der in den Wäldern um Srebrenica geblieben ist. „Wir haben nichts mehr zu verlieren“, sagt sie. „Ohne unsere Angehörigen bedeutet das Leben nichts mehr. Manchmal wünschen wir, wir hätten dasselbe Schicksal erlebt wie unsere Männer und Söhne.“
Alma Husić wurde am 11. Juli 95 aus Srebrenica evakuiert. Zwei Tage zuvor war sie ins Krankenhaus eingeliefert worden, nachdem sie von Granatsplittern am Rücken getroffen worden war. Am letzten serbischen Checkpoint zwischen Srebrenica und Tuzla schickten serbische Soldaten sie wieder nach Srebrenica zurück, weil sie wegen ihrer Verletzungen nicht über die Frontlinie laufen konnte. Nach einer Woche der Erniedrigungen durch serbische Tschetniks wurde sie vom Roten Kreuz nach Bijelina in Bosnien evakuiert.
Heute lebt sie in Tuzla. Nach Angaben der Vorsitzenden der „Aktiven Frauen aus Srebrenica“, Fatima Huseinović, sind von 40.000 Einwohnern der ehemaligen UNO-Schutzzone Srebrenica nur 23.000 nach Tuzla durchgekommen. Die anderen gelten als tot oder vermißt. Zwar hat die UNO-Menschenrechtsbeauftragte Elizabeth Rehn den Frauen aus Srebrenica zugesichert, daß sie die Stadt besuchen dürfen. Doch der serbische Distriktgouverneur von Srebrenica, Miroslav Deronjić, hat einschränkend erklärt, daß er dafür erst die Genehmigung des „Präsidenten“ aus Pale einholen müsse.
Die Frauen aus Srebrenica aber wollen nicht länger warten. Mit drei Demonstrationen haben sie im Januar und Anfang Februar versucht, auf das Schicksal ihrer Männer und Söhne aufmerksam zu machen. Zwar rannten sie nach eigenen Angaben mit ihren Forderungen, das Schicksal der Vermißten zu klären, überall offene Türen ein, aber konkrete Hilfe erhielten sie nicht. Auch ein Gespräch beim bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović endete nach Angaben des Komitees mit leeren Versprechungen. Weder das In- noch das Ausland sicherte dem Komitee bisher finanzielle oder politische Hilfe zu.
Gegründet wurde das Komitee der „Aktiven Frauen aus Srebrenica“ am 15. Mai 1992. Die meisten serbischen und muslimischen Einwohner hatten die Stadt damals schon verlassen. Zu Beginn des Krieges herrschten hier nämlich 21 Tage lang serbische Truppen. Als diese sich zurückzogen, waren nur 75 Einwohner in Srebrenica geblieben. Von diesen wurden nach Angaben des Komitees 27 umgebracht.
Nach dem serbischen Rückzug kam ein Teil der Bevölkerung in die Stadt zurück. Die Zahl der Einwohner stieg damit auf 365 an (von 7.000 vor dem Krieg). Im Verlauf der folgenden Jahre zogen vor allem Flüchtlinge aus den umliegenden Bezirken nach Srebrenica. Weil Srebrenica zur UNO-Schutzzone erklärt worden war, erhofften sie sich dort mehr Sicherheit. Aufgrund der serbischen Angriffe wurde die UNO-Schutzzone immer kleiner und beschränkte sich letztlich auf Gebiete um Srebrenica und Potocari.
Während der dreijährigen Belagerung mußten die Einwohner in Srebrenica ohne Strom, Telefon und fließendes Wasser und fast ohne Nahrungsmittel ausharren. Eine ihrer spektakulärsten Aktionen war die „Festsetzung“ des französischen Unproforgenerals Morillon im Frühjahr 1993. Heute fühlen sich die ehemaligen Einwohner von Srebrenica als Verlierer des Dayton-Abkommens. Wenn niemand ihnen Auskunft über das Schicksal ihrer Angehörigen gibt, wollen sie erneut demonstrieren. Und sie wissen genug, um das politische Gefüge von Dayton durcheinanderzuwirbeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen