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Abschiebe-Überfall auf I-Dötzchen

■ Achtjähriger Junge wird zur gefesselten Mutter in Bremerhavener Gefängniszelle gesteckt.

Der Schlag kam für Maren Kühlken und ihren russischen Schüler Sergej S. überraschend: Am Dienstag morgen gegen halb zehn tauchten zwei Polizeibeamte in Zivil an ihrer Schule auf, um den Erstklässler abzuholen. Warum, das war der Lehrerin nicht sofort klar: Zwar hatte der Vater von Sergej ihr erst ein paar Tage zuvor einen Zettel aufs Pult gelegt: Man will uns gewaltsam abschieben. Doch wußte die Lehrerin auch, daß die dreiköpfige Familie, deren Asylantrag abgelehnt war, selbstständig ausreisen sollte. „Das stand noch am Freitag in der Zeitung.“

Vier Tage später, am Dienstag, erfuhr die Lehrerin, daß die Abschiebung doch unmittelbar bevorstand. Da saß sie schon mit Sergej im Polizeiwagen, nachdem sie sich kurzentschlossen bereit erklärt hatte, den Jungen zur Mutter zu begleiten. Die allerdings saß schon in Polizeigewahrsam. Darüber, was Maren Kühlken dort erlebte, ist sie bis heute entsetzt.

„Während der Fahrt habe ich Sergej immer getröstet und ihm gesagt, daß er seine Mutti gleich sehen wird“, berichtet sie von der Fahrt aufs Revier. Auch die jungen Beamten, denen die Situation „schrecklich unangenehm war“, hätten sich „sehr bemüht“. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte die Mutter des Kleinen ihn schon am Auto in Empfang nehmen sollen, sagt die Lehrerin – aber Fehlanzeige. „Wir wurden im Stadthaus hin und her geführt. Es gab irgendwelche Probleme.“ Welche, das begriff die Frau erst beim zweiten Gang durch „das düstere Gebäude“.

Als sich endlich die Zellentür zur Mutter öffnete, stand diese da und konnte ihr aufgelöstes Kind nicht einmal umarmen und trösten. „Der Mutter waren die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt“, berichtet Maren Kühlken. „Ich bin selbst Mutter zweier Kinder. Für mich war es entsetzlich, das mit anzusehen.“ Was immer der Hintergrund der polizeilichen Maßnahmen gewesen sei, „da kenne ich mich nicht aus“, – aber mit Kind und Mutter hätte man nach ihrer Meinung so nicht verfahren dürfen.

Sowieso hätte man Sergej besser in Deutschland behalten sollen, glaubt die Lehrerin. Denn der Junge leidet an einer Kiefer-Gaumen-Spalte und hat deshalb große Artikulationsschwierigkeiten. Hätte man ihn ein zweites Mal in Deutschland operiert, hätte dem Kleinen geholfen werden können. Davon ist Maren Kühlken ebenso überzeugt wie die Grüne Abgeordnete Gerhild Engels. Die hatte deswegen bereits in der vorigen Woche den Bremerhavener Petitionsausschuß angerufen. Man dürfe dem Kind die medizinische Behandlung nicht verwehren, hatte sie an die Menschlichkeit der Abgeordneten appelliert. Schließlich sei diese Behandlung in Rußland nicht möglich. Doch der für Petitionen zuständige Verfassungsausschuß versagte kläglich: Weil Gerüchte kursierten, daß die Familie untergetaucht sei, befaßte er sich gar nicht erst mit der Petition.

Trotzdem gewährte der Leiter des Ausländeramtes, Horst Recht, am Tag darauf noch eine Gnadenfrist: Die Familie sollte selbständig ausreisen können. So würde ein negativer Paßvermerk verhindert und die Einreise für künftige Behandlungen leichter. Außerdem würden mithilfe der „Internationalen Organisation für Migration“ (IOM) Abschiebekosten gespart. Doch daraus wurde nichts: Am Dienstag, vier Stunden nachdem Sergej zu seinen Eltern in den Polizeigewahrsam gebracht wurde, saß die Familie schon im Flieger. Abgeschoben, „mit ein paar Habseligkeiten in Plastiksäcken“. Das hat die Stadtverordnete Gerhild Engels in Erfahrung gebracht. „Die übrigen Habseligkeiten liegen nun im Keller.“

So wenig wie die Lehrerin Kühlken glaubt Gerhild Engels der Behörde, daß es sich bei dem Bemühen der Russen um Ausreise um eine „faule Sache“ gehandelt habe. Engels hat Grund zur Skepsis: In einem Schreiben bestätigt die IOM den Kontakt zur Familie: „Wir bedauern sehr, daß die Familie zwischenzeitlich abgeschoben wurde. Mit entsprechenden Paßersatzpapieren hätte sie jederzeit freiwillig über unser REAG-Programm ausreisen können.“ Warum Polizei und Ausländeramt dennoch zu drastischen Mitteln griffen, war gestern bis Redaktionsschluß nicht zu erfahren. ede

ede

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