: Die Tage sind gezählt
Sie schreckt bei jedem Anruf hoch und raucht wieder: Zu Besuch bei Christa Hasert, deren Sohn in Kaschmir entführt wurde ■ Von Jens Schmidt
Zuletzt hat Christa Hasert in einem Buchladen vorbeigeschaut. Eine Karte von Nordwestindien, eine möglichst exakte, wollte sie haben. Sie mußte bestellt werden.
Seitdem liegt die Karte stets auf der rustikalen Sitzbank im Eßzimmer. Neben Vorwahlverzeichnis und Telefonbuch. Und hinter dem Korbschälchen, in dem sie die vielen Visitenkarten sammelt, von denen einige wieder in den Papierkorb wanderten, und vor dem Postkartenkalender an der Wand.
Wenn die Erinnerung an ihren Jungen ganz stark schmerzt, dreht sich Christa Hasert um, schaut auf die Tagesleiste im Kalender und sieht eine Zahl. Über das Datum des 24. Januar hat sie mit einem Kugelschreiber eine schlichte „200“ geschrieben. Christa Hasert hat nie aufgehört zu zählen.
215 Tage sind es jetzt her, daß ihr Sohn Dirk in Indien von Separatisten der „Al Faran“ entführt wurde. Eine Woche nach seiner Ankunft in Delhi. 16 Tage bevor er seine deutschen Freunde treffen und 19 Tage bevor er in Katmandu ankommen wollte. Christa Hasert aus Bad Langensalza kennt jedes Datum. Vor allem das vom 9. Juli 1995. Erfahren hat sie es morgens aus den Sechs-Uhr-Nachrichten. Als Krankenschwester, die 30 Jahre um fünf Uhr aufstand, ist sie keine Langschläferin. „Um sechs Uhr“, erzählt die 62jährige, „war sein Name aber noch nicht bekannt. Ich hatte nur Angst.“
Um neun Uhr wurde es Gewißheit. Die erste Boulevardzeitung klingelte an der Tür des kleinen Reihenhäuschens.
Dann kamen sie alle und wollten ein Gespräch. Christa Hasert, die Haare streng nach oben gesteckt, wollte nicht. Sie hat niemanden ins Haus gelassen. „Es gab kein Miniblatt, das nicht auch noch angerufen hat. Wen ich hinauswarf, der kam im Garten wieder herein.“ Hinter der Hecke am Zaun bauten die Fernsehteams ihre Kameras auf, vor dem Haus parkten sie ihre Autos, in denen sie übernachteten. Aber Christa Hasert hat nein gesagt. In diesen Tagen hat sie wieder angefangen zu rauchen.
„Nein“ zu sagen war auch der Rat aller Behörden. Keine Presse, keine Öffentlichkeit. Die Spielregel war klar, und sie erschien auch logisch. „Die längste Entführung“, hatte man ihr im Auswärtigen Amt versichert, „die es in dieser Krisenregion Indiens gegeben hat, dauerte 17 Tage und verlief völlig unblutig.“ Was Christa Hasert erst später erfährt: Die Entführten waren Mitarbeiter einer Firma, die wohl Lösegeld gezahlt hat.
Und wie war es bei Dirk, dem 26jährigen Studenten, mit dem Häftlinge freigepreßt werden sollen? Auch Birgit, seine 31jährige Schwester, weiß es nicht. Nur eins weiß sie, und das genausogut wie ihre Mutter. „Dirk war vorsichtig.“ Birgit steckt sich wieder eine f6 an. „Er hat sich bei Armee, Polizei und einem staatlichen Reisebüro erkundigt, bevor er in Kaschmir auf Trekkingtour ging.“ Und Dirk gilt als bedächtig, wenn er auf Reisen ist. Reisen, das ist sein Leben. Jeden Pfennig legt er seit seinem Wehrdienstende in den Herbsttagen 1989 beiseite, „damit er das im Ausland sehen kann, wohin ich nie kommen konnte“.
Immer an Dirks Seite: Anne- Katrin Hennig, seine Freundin, die sich bis vor kurzem noch in Erfurt völlig zurückgezogen hat und heute Unterschriften sammelt. Anne-Katrin wird später auch dabeisein, als Dirk, ein Norweger, ein Brite und ein Amerikaner entführt werden. Ein Überfall, bei dem alles ganz schnell geht. Die vier Freundinnen müssen zusehen, wie ihre Männer entführt werden. Es wird eine Odyssee. Anne fährt nach Delhi und bleibt mit den anderen in der britischen Botschaft. Erst am 25. Oktober, als gewiß ist, daß die Entführung länger dauern könnte, kehrt sie nach Deutschland zurück.
Verläßliche Informationen aus Indien kommen selten in diesen Julitagen. „Wir sind vom Radio zum Fernsehen gerannt, wir haben die Zeitungen geholt und Videotext gelesen.“ Christa Hasert sinkt in sich zusammen. „Manchmal bringt Dirks Bruder Bernd, der bei Leuna 2000 arbeitet, britische Blätter mit nach Hause. Aber alles, was wir erfahren, ist so widersprüchlich“, sagt Birgit Hasert. Mal heißt es von der indischen Regierung, diese und jene Gruppe habe sich aufgelöst, dann wieder, sie habe sich nur neu geordnet. Mal ist von 60, mal von 100 Separatisten die Rede. Jeder neue Anruf bringt neue Verwirrung.
Über dem Apparat hat sie sich jetzt einen Zettel mit den wichtigsten Nummern an die Wand geklebt. Die Botschaft, Bonn, das BKA.
Christa Hasert hat sich verändert in den vergangenen sechs Monaten. Sie verläßt kaum noch das Haus, fährt zum Einkaufen dahin, wo sie keiner kennt. Sie sieht ihre Nachbarn höchst selten und schreckt bei jedem Telefonanruf hoch. Ihr Mann auch. Er redet mit niemandem und schleicht im Haus herum, als suche er seinen verschwundenen Sohn. An zwölf Tagen im Januar, so hat Christa Hasert zusammenaddiert, hat sich die deutsche Botschaft in Delhi nicht einmal bei ihr gemeldet. Nicht einmal gesagt, daß es nichts zu sagen gibt.
Sie geht nebenan ins Wohnzimmer, holt den grauen Leitz-Ordner, in dem sie alle Artikel, alle Briefe sammelt. Christa Hasert blättert im Leben ihres Sohnes – und ist doch so weit weg von ihm. Sie spricht über den 13. August. Es ist der Tag, an dem Birgit Hasert mittags um zwölf den Videotext von CNN schaut. Und sich – völlig geschockt – die Meldung aus dem Englischen übersetzt: Der Norweger Hans-Christian Ostro, einer der vier entführten Touristen, ist ermordet worden. Das ist für alle der bisher schlimmste Tag.
Am nächsten Morgen, dem 14. August, liest ihr der andere Sohn Jörg am Telefon die Schlagzeile von der ersten Seite eines Straßenblattes vor: „Jetzt ist der Deutsche dran!“ An diesem Tag begeht die Geisel Dirk Hasert irgendwo in Kaschmir ihren 26. Geburtstag. Birgit Hasert ist psychisch am Ende. Noch jetzt schluckt sie bei dem Gedanken. Die Druckereiangestellte nimmt sich im August erst einmal Urlaub – in dem schließlich alle Journalisten erscheinen, die bislang noch nicht da waren. Nun klingeln auch Schreinemakers und Biolek an.
Und wieder heißt es warten, wieder hoffen. „Wenn es diese Hoffnung nicht mehr gibt“, sagt sich Christa Hasert jeden Tag, „dann kann ich auch nicht mehr kämpfen. Nur das zählt.“ Denn sie will kämpfen, und dazu gehört das Erzählen von Dirk. Zwar stammt das letzte Lebenszeichen – eine Tonbandkassette mit Dirks Worten „Anne, ich liebe dich“ – von Ende August. Doch die Familie Hasert hat nie aufgehört zu glauben, daß Dirk eines Tages wieder dasein und das Studium beenden wird. Auch wenn dann nichts mehr so ist, wie es einmal war.
Wenn nur nicht diese Ungewißheit wäre. „Ich verstehe nicht, wie Telefonmitschnittprotokolle zwischen Entführern und der indischen Regierung in den Zeitungen auftauchen konnten.“ Sie kann sich auch nicht erklären, wie selbst der letzte Kontakt mit den Terroristen vom Dezember in die Presse lanciert wurde. „Und ich begreife nicht, wie Außenminister Kinkel zwar vier Appelle an die Entführer richten, aber kein Lebenszeichen fordern kann.“
Statt dessen ist im Dezember ein Ministerialbeamter ins fünfzig Kilometer von Erfurt entfernte Bad Langensalza gekommen und hat vom Protokoll vorgelesen: Heute das getan, gestern das. Das Auswärtige Amt schickte ihr einen Psychologen, die indische Botschaft nur noch den Zweiten Sekretär.
Die fast stärkste Unterstützung, so empfindet die Familie, hat sie von einem Mann erhalten, der einst selbst Geisel war – 1.128 Tage lang im Libanon: Heinrich Strübig. Kein Weg nach Thüringen ist dem Mann zu weit, kein Anruf zu spät. Der Mann schildert seine Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie. „Verarbeitet hat er dieses Drama noch immer nicht.“ Den Weg dazu hat Strübing beschritten – er hat ein Buch über sein Trauma geschrieben. Birgit Hasert hat lange gezögert. Vor wenigen Tagen hat sie begonnen, es zu lesen.
Und die ganze Familie entschied sich, doch an die Öffentlichkeit zu gehen. Birgit Hasert. „Weil wir anders auf das Schicksal von Dirk nicht aufmerksam machen können.“
Mit der Teilnahme an einem Friedensgebet in der Marktkirche der thüringischen Kleinstadt hat die Familie begonnen – sie will nicht mehr schweigen. Erika Gedrich von der Stadtverwaltung koordiniert die deutschlandweiten Aktionen. An einer Unterschriftensammlung, organisiert von der Stadt Langensalza und den Freunden Dirk Haserts, haben mehr als 100.000 Menschen teilgenommen. Heute werden einige der Haserts und gute Freunde nach Bonn fahren, um sie dem Außenminister zu übergeben.
Ab morgen werden es wieder lange Tage. Christa Hasert dreht sich ein letztes Mal zur Wand, schaut auf die „200“ am Kalender, danach auf die Armbanduhr.
Die deutsche Botschaft hat noch immer nicht angerufen.
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