: Hemmschuh Landesgrenze
Die hamburgischen Landesgrenzen verlaufen quer zu den Realitäten. Sie durchschneiden den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhang einer unter starkem Veränderungsdruck stehenden Region von über 3,2 Millionen Menschen. Sie erschweren eine erfolgreiche Zusammenarbeit in vielen wichtigen Politikbereichen. Sie verlocken oder – angesichts des Faktums von Wahlen – zwingen, sich primär an den Interessen der „eigenen“ Bevölkerung zu orientieren. Sie werden mehr und mehr zum Anachronismus in einem Europa, in dem der Wettbewerb der Nationalstaaten zunehmend abgelöst wird von der Konkurrenz der Regionen.
Eine ökologische Siedlungspolitik für Wohnen und Gewerbe, die angesichts des wachsenden Flächendrucks wertvolle Landschaftsräume schützt; ein gemeinsam finanzierter, leistungsfähiger öffentlicher Nahverkehr in der Region; eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch abgestimmte Standortpolitik und gemeinsame Investitionen in Forschung und Entwicklung: diese und weitere Aufgaben treffen auf Strukturen, die kein demokratisch legitimiertes, grenzüberschreitendes Medium verantwortet, bei denen Finanzierung und Nutzung von Infrastruktur weit auseinanderklaffen, bei denen nicht selten Steuergrenzen statt Verkehrs- und Grünachsen über Unternehmensstandorte entscheiden.
Gewiß wäre es für die traditionsreiche Stadtrepublik Hamburg nicht leicht, Souveränität abzugeben. Und fraglos würden sich die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt auch weiterhin zunächst als Hamburger und nicht als „Nordstaatler“ empfinden. Aber eine Selbständigkeit, die zwar formal unangetastet bliebe, angesichts wachsender Inkongruenz mit den zu bewältigenden Aufgaben die tatsächlichen Handlungsspielräume unserer Stadt indes eher gefährdete als förderte, eine solche Selbständigkeit steht in Widerspruch zum traditionellen hamburgischen Realitätssinn. Und das Selbstwertgefühl der Hamburgerinnen und Hamburger scheint mir stabil genug, auch ohne eigene Landesregierung sicher vor jeder Identitätskrise zu sein. Übrigens auch ohne den Anspruch, Hauptstadt eines möglichen Nordstaates zu sein.
Hamburg und seine Nachbarn versuchen gegenwärtig über das regionale Entwicklungskonzept den im Vergleich zur Länderneugliederung zweitbesten, wenngleich zur Zeit wohl einzig realistischen Weg zu gehen. Die drei Kabinette werden in Kürze einen konkreten Handlungskatalog vorlegen, der gemeinsame Ziele und Maßnahmen in bezug auf die skizzierten Aufgaben formuliert. Dabei sind bereits heute durchaus Erfolge zu verzeichnen, z. B. bei der gemeinsamen Siedlungspolitik oder in der Abfallentsorgung. Daß dieses äußerst arbeits- und abstimmungsaufwendige Verfahren des „So handeln, als ob es keine Ländergrenzen gäbe“ auf Dauer hinreichend erfolgreich sein wird, muß indes mit einem Fragezeichen versehen werden.
Die Vernunft gebietet, die angesichts der aktuellen politischen Strukturen objektiv bestehenden Interessenunterschiede zu überwinden. Diesen Versuch macht das Regionale Entwicklungskonzept. Noch sicherer als das Vertrauen auf dieses sehr komplexe Verfahren wäre es allerdings, die bestehenden Interessenunterschiede durch eine Veränderung der Ländergrenzen strukturell zu reduzieren.
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