Purim, der jüdische Karneval

Einmal im Jahr feiern die Israelis, um an einen Bösewicht zu erinnern: Haman, der Großwesir, wollte einst die Juden ausrotten. Zum Festprogramm gehören auch Geschenke an die Armen  ■ Von Günter Schenk

Mitten in Mozarts Kleiner Nachtmusik bellen Hunde, wiehern Pferde, knallen Peitschen. Israels staatlicher Rundfunk sendet sein Festprogramm. Auch im Fernsehen, das einen Gottesdienst überträgt, scheint vieles nicht mehr zu stimmen. In der Synagoge hängen Luftballons, die Gläubigen tragen bunte Kostüme und tanzen Polonaise.

Selbst da, wo Fernsehen und Radio aus Glaubensgründen nicht dudeln dürfen, in den streng chassidischen Gemeinden, steht alles auf dem Kopf. Statt frommer Lieder tönen Polka- und Pußtaklänge, die osteuropäische Juden ins Exil gerettet haben. Die Schriftgelehrten tanzen auf dem Tisch. Dazu wird viel getrunken und gegessen, und ganz hinten im Gotteshaus grinst der Teufel unter seiner Maske. Israel feiert Purim, einen jüdischen Karneval, der zwar religiöse Wurzeln hat, heute aber weitgehend als weltliches Fest verstanden wird. Überall auf den Straßen zeigen sich die Kinder in bunten Kostümen, präsentiert von stolzen Eltern, die den schulfreien Tag dazu nutzen, ihre Sprößlinge richtig zu verwöhnen. Fast an jeder Ecke gibt es Zuckerwatte, Eis und Schokolade für die Kleinen. Die „Muselmänner“, arabische Händler, spezialisiert auf das süße Geschäft, haben viel zu tun. Abends feiern die Erwachsenen auf kleinen Familienbällen oder großen Kostümfesten, bei denen es meist hoch hergeht. Polizei und Krankenhäuser spüren das. Denn jährlich zum Purim, wenn alkoholisierte Festgäste ihren Wagen auf Schleichwegen nach Hause steuern, steigen die Unfallziffern. Zu später Stunde denkt kaum jemand an die Null-Promille-Grenze auf den Straßen.

Im Mittelpunkt des Festes steht Esther, die bei Schriftstellern, Musikern und Malern wohl populärste Frau des Alten Testaments. Um sie ranken sich eine Reihe von Geschichten, die im sechsten Monat des jüdischen Jahres, im Februar oder März christlicher Zeitrechnung, in der Synagoge öffentlich vorgelesen werden – zur Freude der Gläubigen, die an vielen Bibelstellen kräftig Krach machen. Wann immer die Rede auf Haman kommt – den persischen Bösewicht, der die Juden einst ausrotten wollte, wird es laut in den Gotteshäusern. Dann klopfen die Kirchgänger auf Stein oder Holz, scharren mit den Füßen oder lärmen mit ihren Klappern und Ratschen, die eigens für die Purim-Feiern gefertigt werden. Besonders lebhaft geht es in Tel Aviv zu, wenn während der öffentlichen Lesung aus dem Buche Esther, der „Megilla“, Feuerwerkskörper verschossen werden.

Haman ist der Bösewicht beim Purim-Fest – eine Figur, die in der langen jüdischen Geschichte immer wieder neue Gestalt gewonnen hat. Etwa in den 30er Jahren, als in Tel Aviv eine Adolf-Hitler- Puppe an Hamans Stelle erschossen wurde. Und noch heute gibt es Juden, die sich Haman mit Schnauzbärtchen und Mittelscheitel vorstellen. Mardochai heißt Hamans Gegenspieler. Als Jude hatte er es einst abgelehnt, sich vor Haman, dem Großwesir, zu verneigen. Zornig beschloß Haman deshalb, Mardochai zu töten und alle Juden auszurotten. Den Termin dafür, den 13. Tag des jüdischen Monats Adar, hatte er per Los (hebräisch: Pur) bestimmt. Retter in der Not war schließlich Esther, die Gattin des Perserkönigs. Sie entlarvte Haman als Verschwörer, ließ ihn hinrichten und Mardochai zum neuen Großwesir ernennen. Damit waren die Juden gerettet, ihre Zukunft gesichert. In Erinnerung daran verbrennen jüdische Kinder noch heute zum Schluß des Purim-Festes Haman- Puppen oder hängen sie an den Galgen. Weil Hamans Mordpläne am 13. Tag scheiterten, befahl Mardochai allen Juden, den 14. Tag des Adar besonders ausgelassen zu feiern: mit einem großen Festmahl, das im Gegensatz zu anderen religiösen Festen nicht am Abend, sondern schon am Tag steigt. Dabei dürfen Speisen auf Arten zubereitet werden, die den gläubigen Juden sonst verboten sind. Zum Essen wird viel getrunken, denn zu Purim ist ein Rausch erwünscht, der – wie es im Talmud heißt – die Grenzen zwischen dem Lob auf Mardochai und dem Fluch über Haman verwischen soll.

Traditionelle Festgabe sind Süßigkeiten, die zu Purim verschenkt werden. Schon Tage vorher werden sie gebacken, wie bei uns die Weihnachtsplätzchen. Spezialität sind „Hamantaschen“: dreieckige Plätzchen, die nach alten Rezepten mit Honig und Mohn gefüllt werden, heute aber – unter amerikanischem Einfluß – meist mit Aprikosenmarmelade oder Zwetschgenmus. „Hamanohren“ nennen die alten Israelis ihr Festgebäck: Erinnerung an die Zeiten, in denen Bösewichtern die Ohren abgeschnitten wurden, ehe sie am Galgen endeten.

Ebenfalls zum Festprogramm gehören Geschenke an die Armen. Gab früher jeder erwachsene Jude einen halben Schekel zur Unterhaltung des Tempels in Jerusalem, erwartet man heute, daß er jährlich zu Purim sozial schwachen Familien eine bestimmte Summe zukommen läßt – als Dank für die Taten Esthers, die unter Historikern und Theologen allerdings sehr umstritten sind. Zu den heftigsten Kritikern des Buches Esther, das zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert vor Christus entstanden ist, gehörte unter anderem Martin Luther, dem viele Schilderungen zu blutgierig waren.

Als das Buch in den Kanon biblischer Schriften aufgenommen und von da an in der Synagoge öffentlich verlesen wurde, hatte das Purim-Fest längst seine Anhänger gefunden. Volkskundler vermuten, daß sich in ihm babylonische Frühjahrsbräuche spiegeln, die im jüdischen Selbstverständnis umgedeutet wurden – ähnlich wie die Christen 1.500 Jahre später aus heidnischen Mummenschanz die Fastnacht formten.

Überhaupt sind die Parallelen zwischen Purim und Fastnacht nicht zu übersehen. Beide Feste erlauben es, einmal im Jahr in neue Rollen zu schlüpfen: Männer tragen Frauenkleider, Frauen kostümieren sich als Männer – ein Rollentausch, der dem gläubigen Juden sonst verboten ist. Und ähnlich wie der Karneval dient auch das Purim-Fest als Ventil. Vor allem in den streng orthodoxen jüdischen Gemeinden artikulieren an diesem Tag viele ihren Unmut an sozialen und politischen Entwicklungen.

Wesentlich beeinflußt wurde Purim von den mittelalterlichen Narrenfesten und Mysterienspielen. Was für die Christen der „Narrenkönig“, war der „Purim-Rabbiner“ für die Juden, ein anarchistischer Herrscher, der den Talmud parodierte, und so wie die biblischen Gestalten in den Mysterienspielen und Prozessionen lebendig wurden, nahm das Buch Esther im „Purim-Shpil“ langsam Form an.

Schon im 15. Jahrhundert zogen maskierte Burschen von Haus zu Haus, um die Geschichten um Esther vorzuführen. Aus diesen szenischen Lesungen entwickelte sich schließlich anspruchsvolles Theater. Besonders bekannt waren Aufführungen in Frankfurt, Hamburg, Metz, Prag, später auch in Amsterdam und Berlin, wo Schauspieltruppen gegen Eintrittsgeld die oft musikalisch umrahmten Esther-Dramen aufführten. Sie legten den Grundstock für das aktuelle jüdische Theater.

Heute ist das Purim-Spiel vor allem in den Kibbuzim lebendig, den ländlichen Siedlungskollektiven, wo die Kinder Jahr für Jahr die Geschichte von Esther, der Guten, und Haman, dem Bösen, nachspielen. Lärm und buntes Durcheinander bestimmen diese Feiern, die den Kindern nicht nur ihre Geschichte näherbringen, sondern vor allem ihr Gemeinschaftsgefühl stärken sollen. Besonderes Ansehen genießt das Fest übrigens bei den jüdischen Frauen, die im religiösen Leben weit weniger Rechte als Männer genießen. Zu Purim aber sind sie gleichberechtigt, wenn sie sich in vielen Synagogen mitten unter die Männer mischen dürfen. Dann machen sie sich besonders hübsch. Denn Purim, so erinnern sich vor allem die älteren Damen noch heute gern, war die einzige Gelegenheit im Jahr, zu der sie ihre Lippen schminken und die Fingernägel lackieren durften.