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Vision des modernen Netzmenschen

In Amsterdam bietet „XS4All“ seinen Kunden garantiert freien Zugang zum Internet – die niederländischen Radikaldemokraten halten die Debatte über Zensur im Netz für völlig verfehlt  ■ Aus Amsterdam Henk Raijer

Im Eckzimmer des zweiten Stocks der früheren Amsterdamer Seefahrtschule dreht sich Rop Gonggrijp vom Computer weg und die Heizung einen Schlag weiter auf. Draußen im Hafen liegt regungslos die „Batavia“, festgeschraubt im Eis vor der ehemaligen Marine-Akademie. Bei minus 12 Grad und eisigem Ostwind will keiner an Bord des hübschen Dreimasters, einer originalgetreuen Kopie der Schiffe aus der Zeit der holländischen Ostindienkompanie. Nur ein Eisbrecher läßt sich von der frostigen Atmosphäre der Hauptstadt nicht aufhalten und bahnt sich seinen Weg durch die Fahrrinne im Ij-Fluß.

Rop Gonggrijp wendet sich vom Fenster ab und setzt sich wieder an seinen Bildschirm. „Da ist nichts mehr aufzuhalten“, führt der Begründer des Internet-Providers „XS4All“ einen Gedanken zu Ende. „Solche Leute sollten sich von der Vorstellung verabschieden, die Verbreitung von Information ließe sich noch verhindern.“

Solche Leute? Das sind elektronisch versierte Staatsschützer und, in deren Fahrwasser, die Online- Dienste CompuServe und Deutsche Telekom, die derzeit nichts unversucht lassen, „Obszönes“ und „Verbotenes“ von den Bildschirmen fernzuhalten. Die Verbreitung der Auschwitzleugnung im Internet verbieten? OnlineDienste dazu zwingen, daß sie ihren Kunden den Zugang zu Newsgroups sperren, die Kinderpornographie anbieten? Gonggrijp krault sich die spärlichen Haare hinter der hohen Stirn. „Politisch ist das völlig unzeitgemäß, ja kurzsichtig. Und rechtlich ohnehin aussichtslos.“ Der Vermittler könne doch nicht für Nachrichten im Netz verantwortlich gemacht werden, deren Inhalt er aufgrund der Datenflut gar nicht kennt. Verantwortlich dafür, sagt Gonggrijp, sei derjenige, der sie ans elektronische schwarze Brett heftet: der Kunde.

Für den 27jährigen Computerfreak ist die jüngste Entscheidung von CompuServe, seinen Abonnenten auf Druck einer Behörde den Zugang zu bestimmten Newsgroups zu sperren, eine „gefährliche Tendenz zu Selbstzensur“. Und Zensur hat im weltweiten Datennetz Internet nach Meinung des leidenschaftlichen Hackers keine Chance. Bedenken, auch XS4All könnte mal in eine moralische Zwickmühle geraten, hat Gonggrijp nicht. Der XS4All-Kunde würde es nicht hinnehmen, wenn „sein“ Onlinedienst sich auf den Standpunkt stellte, Herausgeber sei XS4All und der User solle doch bitte die Netzgemeinde mit seinen Ansichten verschonen. „XS4All- Kunden haben ganz stark das Gefühl, daß sie selbst Herausgeber ihrer Seiten sind, daß sie ganz allein die Risiken der Verbreitung ihrer Informationen tragen.“

„XS4All“– das ist hippes Amerikanisch für „Access for All“: freier Zugang für alle. Was unterscheidet den alternativen Amsterdamer Onlinedienst (http:// www.xs4all.nl/) von der Konkurrenz? Zunächst einmal die Zahl seiner Abonnenten. Im Vergleich zur Millionenkundschaft des US- Anbieters CompuServe etwa nehmen sich die 7.500 Kunden des Unternehmens an der Amsterdamer Prins Hendrikkade eher bescheiden aus. Monatlich 30 Gulden (etwa 27 Mark) kostet den Internet-Junkie seine ungebremste Auffahrt auf die Datenautobahn.

Nicht ganz billig. Doch anders als bei America Online (9,90 Mark) oder CompuServe (demnächst 19,50), deren Abo zwei bzw. fünf kostenlose Stunden im Monat vorsieht, kann der XS4All-Kunde hemmungslos drauflossurfen. Für Überraschungen könnte am Ende nur die Telefonrechnung sorgen. Weil aber XS4All durch seine Modemstationen in Amsterdam, Maarssen und Zoetermeer in allen großen Städten Hollands lokal erreichbar ist, halten sich auch hier die Kosten in Grenzen.

Doch XS4All, das Unternehmen Zukunft mit dem Status einer Stiftung, ist mehr als nur ein preisgünstiger Online-Dienst. Die Parole „Uneingeschränkte Datenfreiheit, Zugang für alle“ ist konstituierender Bestandteil seiner politischen Philosophie: Der Zugang zu Computerdokumenten ist nach der Maxime der XS4All-Belegschaft ein Grundrecht. Die Informationen, die es gibt, müssen für alle zugänglich sein. „Das ist wichtig für die Demokratie in einer von Berlusconis und Bertelsmännern dominierten Medienwelt. Der alternative Zugang zum Internet hilft dabei: Ich kann für ein paar Groschen ein Riesenpublikum erreichen, wenn ich etwas Sinnvolles zu sagen habe. Ich kann eine Diskussion vom Zaum brechen, die wahrgenommen wird, ohne daß ich einen Journalisten überzeugen muß, ohne Zugang zu den monopolisierten Massenmedien“, behauptet Rop Gonggrijp. Und die meisten Abonnenten teilen diese Ansicht.

Das hat mit der gemeinsamen Vergangenheit zu tun. Ende 1992, als der Zugang zum Internet noch Forschungsinstituten und wenigen Großunternehmen vorbehalten war, grübelte man in Hackerkreisen bereits über Möglichkeiten nach, auch privaten Interessenten die schöne neue Datenwelt zu eröffnen. Am 1. Mai 1993 hefteten Rop Gonggrijp, Philippe Rodriguez und Paul Jongsma, seit 1989 Herausgeber der Hackerzeitschrift Hacktick, ihrer Netzgemeinde einen Aboschnipsel auf die Platte: Wer abonniert und gleich zahlt, darf on line, und zwar bald, lautete die Verheißung.

In der bangen Hoffnung, möglichst bis Ende desselben Jahres 500 Vorausabonnenten für das ungewisse Vorhaben zu gewinnen, konnten die jungen Möchtegern- unternehmer schon am nächsten Tag um 17.00 Uhr die 500. Anmeldung verbuchen. Es konnte losgehen. „Wir hatten einfach Glück, es gab damals noch keinen Internet- Provider in Holland, und viele hatten schon lange auf diesen Zeitpunkt gewartet“, erzählt Rop Gonggrijp. „Aber es war ein Chaos, wir wurden regelrecht überrollt. Immerzu mußten wir Modems dazukaufen, es gab nie genug. Und wir hatten in dem ersten Jahr große Probleme, eine ,normale‘ Firma zu werden.“

Das wurden sie schließlich doch, sogar mit einer stinknormalen Unternehmenshierarchie und halbwegs ordentlichen Gehältern. Mittlerweile zählt XS4All 17 Mitarbeiter – Durchschnittsalter 25 Jahre. Neben Stiftungsvorstand und „Ideenmann“ Rop Gonggrijp (rop6xs4all.nl) und Geschäftsführer Philippe Rodriguez koordinieren zwei weitere Kollegen Programmierung und Verkauf. Drei Technikfreaks sind zuständig für die Systempflege, vier kümmern sich um die Buchhaltung, und sechs Frauen und Männer arbeiten im Servicebereich. Alle hier sind hoch qualifiziert, aber keineR hat einen formalen Abschluß. „Theorie“, stöhnt Hanneke Vermeulen, die wie einige ihrer KollegInnen mal eine Weile Informatik studiert hat. „Jeder, der sich auskennt mit dem Internet, der technisch was drauf hat, der ist bei der Arbeit.“

Eine Zigarette in der linken Hand, die rechte locker auf der Tastatur, erklärt sie Anrufern mit Hilfe des kopfhörerintegrierten Mikrofons geduldig, wie ein Modem anzuschließen oder die Software zu installieren ist. Auch wie sich der Neuzugang seine erste eigene Homepage im World Wide Web zusammenbasteln kann. „Studium? Das ist vertane Zeit“, ist sie überzeugt. „Die Uni ist doch völlig hinterher. Da wurden wir an Systemen ausgebildet, von denen jeder wußte: Am Ende des Studiums sind die längst weg vom Fenster.“ Technikversessen seien sie alle, meint Rop Gonggrijp auf dem Weg ins Allerheiligste, der an zwei noch jugendlichen Kollegen vorbeiführt, die ihre Pause am Flipperkasten verbringen. Im „Maschinenraum“, inmitten eines gigantischen Strippenwirrwarrs, türmen sich auf drei Regalen die blinkenden Modems. „Hier steht unser millionenschweres System, dem die Firma auch ihren Namen verdankt“, erklärt der Mann mit dem schwarzen „XS4All“-Schriftzug auf gelbem Sweatshirt. Und grinsend: „Dabei waren wir früher mal so nette Anarchisten.“

Neben „Asterix“ und „Obelix“, den beiden Mail-Servern, die circa 400 Telefonleitungen bedienen, stehen hier auf wenigen Quadratmetern auch die 35 Modems der Stiftung „Digitale Stad“. Ziel dieses 1994 gegründeten Projekts ist es, im abgegrenzten Rahmen einer Großstadt neue Demokratieformen auszuprobieren. „Und das kommt an“, weiß Gonggrijp. „Die Leute nehmen das Projekt ernst, weil es autonom ist, parteipolitisch in keine Schublade paßt.“ Bürger und Initiativen bringen gratis ihr Wissen unter und ziehen Politiker zur Verantwortung – alles online.

Die Idee von modernen Menschen, die selbst die Zukunft ihrer Stadt gestalten, diese Vision, beseelt vom Glauben an eine vernetzte Gesellschaft, ist bestechend radikaldemokratisch, die Ausführung darüber hinaus billiger als jedes Referendum. Um welche Themen es auch immer gehen mag, um eine Autobahn durch eine Schrebergartenkolonie oder um die geplante Neuordnung von Bezirken – nichts führt am digitalen Dialog mit dem Bürger vorbei. Denn der weiß stets über alles Bescheid. So müssen die gewählten Volksvertreter, wie ungern sie das sicher tun, dem Volk punktuell einen Teil ihrer Befugnisse zurückgeben. Und das bestimmt dann selbst, in welche Richtung etwas laufen soll.

Hollands Politiker ist dieser uneingeschränkte Zugriff der Bürger auf Informationen aller Art nicht ganz geheuer. Aber „wer diese Entwicklung verschläft, steht bald im Abseits“, erklärt Rop Gonggrijp. „Denen fällt doch meist nichts Besseres ein, als reflexartig einen rechtlichen Rahmen zu verlangen für etwas, das sie noch gar nicht richtig begriffen haben. Das ist auch in Deutschland nicht viel anders“, mutmaßt er, während er beiläufig mit der Maus den Zugang der in Deutschland verbotenen Zeitschrift Radikal anklickt: http:// www.xs4all.nl/;tank/ Radikal.

„Wer nicht erkennt, daß im Zeitalter solcher Technologie die Unterdrückung von Informationen eine Vergeudung von Energie darstellt, ist in gefährlichem Maße blind“, meint Gonggrijp. „So ein Kampf ist nicht zu gewinnen.“ Die Mittel, die zur Zeit in die Errichtung von Mauern gesteckt würden, sollten seiner Meinung nach lieber darauf verwandt werden, die Leute aufzuklären: „Am wenigsten wird die Gesellschaft Schaden nehmen, die sich am schnellsten anpaßt. Aufzuhalten ist da ohnehin nichts mehr. Was bei uns verboten wird, kommt über eine elektronische Umleitung hierher – technisch alles kein Problem.“ Obwohl er die negativen Aspekte der Verbreitung solcher Auswüchse wie Kinderpornos oder der Auschwitzleugnung durchaus sehe, so der Computerspezialist, müsse man hin zu einer Gesellschaft, die nicht verbietet, sondern sich dagegen immunisiert – durch Gegenöffentlichkeit. „Zensur wäre wirklich das Ende.“

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