: Bericht mit zwei Lesarten
■ Wie John Major nach dem Anschlag der IRA die Geschichte interpretiert
Dublin (taz) – Wie war das mit dem Mitchell-Bericht vor drei Wochen? Weil die IRA und ihr politischer Flügel, Sinn Féin, die sechs Vorschläge des früheren US-Senators zur Ausmusterung der Waffen abgelehnt hätten, legte die britische Regierung mit den Wahlen für eine nordirische Versammlung einen neuen Plan für den Frieden in der Krisenprovinz vor. Weil ihnen das auch nicht gefiel, zündete die IRA am Freitag eine Bombe in London, durch die zwei Menschen getötet wurden. Das behauptete John Major Dienstag nacht in seiner „Fernsehansprache an das Volk“. In Wahrheit war es der Premierminister, der den Mitchell-Bericht in den Papierkorb warf, weil Mitchell Allparteiengespräche ohne vorherige Ausmusterung der Waffen empfohlen hatte.
Am Nachmittag hatte Major im Unterhaus verkündet, daß Wahlen in Nordirland das einzige Mittel seien, um Allparteiengespräche zu ermöglichen. Indirekt beschuldigte er die Dubliner Regierung, seinen Vorschlag verdreht zu haben. „Es geht mir gar nicht um ein Parlament mit legislativer und administrativer Gewalt, das ist ja Blödsinn“, sagte Major, „sondern um ein auf begrenzte Zeit gewähltes Gremium.“ Der irische Premier John Bruton hatte die Wahlen als „Öl ins Feuer“ bezeichnet, machte gestern jedoch einen Rückzieher: Im irischen Parlament sprach er davon, er habe sich mit Major darauf geeinigt, vor den Wahlen in Nordirland Verhandlungen nach Dayton-Muster einzuberufen. Auch John Hume, Chef der nordirischen Sozialdemokraten, soll den Wahlen zugestimmt haben.
Majors Versprechen, daß die Wahlen direkt zu Allparteiengesprächen führen sollen, ist freilich mit Vorsicht zu genießen, hat er es in den vergangenen anderthalb Jahren doch genauso oft gebrochen, wie er es gegeben hat. Werden sich Major und die probritischen Unionisten nach den Wahlen mit Sinn Féin zusammensetzen, wenn die IRA ihren Waffenstillstand bis dahin nicht erneuert hat? Wohl kaum. Und die Ausmusterung der Waffen, das hat Major deutlich gemacht, ist als Vorbedingung auch noch nicht vom Tisch.
Bei den Unionisten hat die IRA-Bombe fast Erleichterung ausgelöst, weil der Ruf des Sinn- Féin-Präsidenten Gerry Adams als Friedensbringer nun angekratzt ist. Parteichef David Trimble reiste nach Washington und verlangte von US-Präsident Bill Clinton, daß Adams jetzt einen politischen Preis zu zahlen habe. Clinton sagte, er werde alles in seiner Macht stehende tun, um den Friedensprozeß wieder in Gang zu bringen. Die von Trimble geforderte Ächtung von Sinn Féin gehört nicht zu diesen Maßnahmen: Regierungsbeamte werden die Kontakte noch in dieser Woche erneut aufnehmen.
Die Verbitterung über die britische Verzögerungstaktik hat in Nordirland wieder Unruhen ausgelöst: In Derry kam es zu Angriffen auf Busse. Ralf Sotscheck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen