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Gestörter Schlaf der Gerechten

Dieter, der sonst hier schreibt, hat mich aus dem Bett geklingelt. Nun gut, es war Samstag nachmittag, aber einmal will ja auch der Netzbewohner schlafen. Der Teufel sei los, sagt er am Telefon, überall schwarze Webseiten.

Ach Dieter, mein Freund, geh wieder online. An diesem Samstag hatte die taz das blaue Band schon als Link in die digitale Ausgabe gesetzt. „Free Speech Online“, meine Zeitung ist solidarisch mit allen digitalen Bürgerrechtlern der USA, und was mich angeht: Es lebe der Schlaf der Gerechten. Klick drauf, Dieter, habe ich gesagt, dann kannst du alles lesen über den Decency Act, den Bill Clinton unterschrieben hat, über die Blue-Ribbon-Campaign und warum der Börsenrenner Netscape mitmacht. „Netscape stands for open standards“ – reicht das nicht?

Nein, Dieter hatte recht mit seinem Anruf. Wir müssen alarmiert sein. Auch wir. Es gibt nur eine einzige Freiheit der Rede, meine und deine sind dieselbe, sie ist unteilbar. Das liegt nicht an der amerikanischen Verfassung, sondern an der Logik des Begriffs. Und ohne Freiheit der Rede wäre das Internet nur ein überflüssiges Spielzeug für reiche Leute, die sich nichts zu sagen haben. Die Wahrheit würden wir nicht erfahren, weder über uns, noch über die anderen, deren Meinung wir

nicht teilen. Warum ist das so schwer zu verstehen?

Ich weiß es nicht, hole die Zündel-Site auf den Schirm, lese, dann wird es mir zu dumm. Wer den Neonazis wirklich schaden will, sollte das Zeug zur Pflichtlektüre machen. Soll ich mich lieber mit Pornos vergnügen? Was amerikanische Politiker für unanständig halten, war mir bisher egal. Jetzt muß es mich plötzlich interessieren, und mein schöner Nachmittag ist ziemlich versaut.

Dabei ist das nur der Anfang. Der Decency Act ist lächerlich. Er wird daran scheitern, daß er vorschreibt, jede einzelne Webseite zu prüfen. Zum Glück schafft das kein Mensch. Die Deutschen werden das anders machen, grundsätzlicher. Deutsche Gerichte werden alles gleichzeitig verbieten: die Zensur ebenso wie das Verbreiten von Kinderpornos und Zündelseiten. Problem gelöst, Staat sauber, Patient tot.

Leider gibt es das eine nur, wenn es das andere gibt, die Meinungsfreiheit nur mit Zündelseiten und Kinderpornos. Das ist nicht schön, aber wahr, und übrigens nützlich, wenn man wirklich die Täter verhaften will, die Zündels und die Menschenhändler. Solange Staatsanwälte, Gerichte und Politiker das nicht begriffen haben, solange bleibt das amerikanische Blaue Band der Redefreiheit in der taz. Seit heute steht es auf der Homepage.

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