: Auf dem Weg zum Liebreiz
■ Aufnahmen von Kammerensembles des NDR auf CD
Geht es einem nicht oft so, daß man die kleine Form mehr liebt, wie man die große mehr bewundert? Gerade in der klassischen Musik, wo sich das Gefühl des Aufgenommenseins und der Ansprache in vielhändigen Orchesterstücken oft zu einem entkörperlichten Gefühl der Erhabenheit veräußert oder in seiner Perfektion zum erschöpfenden Affekt steigert (oder zur gewöhnten Arabeske abnutzt), kommt das Kammerstück manchmal näher an die Sinne. Kein Pomp, kein herrliches Kleid verstopft die Poren auf dem Weg zum Liebreiz.
So kann es einem beispielsweise mit der Kammermusik von Vincent D'Indy gehen, dem Zeitgenossen Debussys, den Romain Rolland als „den französischsten“ der damaligen Komponisten bezeichnete. Der Wagneranhänger, der in dessen Stil größere Werke komponierte, ist in den hier vom NDR-Sinfonieorchester wiederentdeckten kleinen Stücken (Sextett, op. 92, Sonate in C-Dur, op. 59, und Klavierquartett in a-moll, op. 7) seiner lyrischen Phantasie, seinen romantischen Gefühlen gefolgt und hat sein Herz mit dem einfachen Charme der Volksmusik und der Schule wohlerzogener Gefühle ausgeschüttet. Klavier und Streicher wedeln einher wie Kinder auf Wiesen, umtanzen sich übermütig und finden sich in kurzen Erholungspausen, deren Temperament die Neckerei ist.
D'Indys Musik ist von einer seltenen Unbeschwertheit und Herzlichkeit, der jede parfümierte Notensetzerei aus Beifallssucht fehlt. Die verspielte Glückseligkeit dieser kleinen Werke, die das siebenköpfige Ensemble kongenial einfängt, vertreibt den grauen Winter und verleiht Plauderei Flügel.
Diese CD gehört zu einem kleinen Set an Aufnahmen mit Kammerensembles des NDR, die das Label Koch International in den letzten Monaten herausbrachte. Die zweite bemerkenswerte Aufnahme würdigt Werke zeitgenössischer russischer Komponistinnen, allen voran die in Deutschland lebende Sofia Gubaidulina, die auf der CD mit zwei Stücken – einem Quartett für vier Flöten und einem Stück für Viola, Fagott und Klavier – vertreten ist. Alle drei russischen Komponistinnen – Elena Firssowa mit einer Viola-„Meditation“ und Galina Ustwolskaja – könnten als Kontrast zu D'Indy und als Beweis für die Abkehr der Moderne vom Sinnlichen nicht besser gewählt sein. Selbstbezogenheit und intelligent konstruierte Atmosphäre abstrakter Erlebnisse entfalten die Kunstblume einer Zeit, die über ihre Grenzen gestoßen ist, ohne sie vorher verstanden zu haben. Das stiftet einen ungeheuren Reiz an Behauptungen, fordert Einlassungen, reflexive Gewöhnung – und ist als solches schön, ja fast magisch.
Schließlich widmete ein Ensemble zwei CDs der Kammermusik des im KZ Würzburg ermordeten tschechischen Komponisten Erwin Schulhoff und würdigt die gemäßigte Moderne des auch als Interpreten zeitgenössischer Musik seiner Epoche berühmten Schulhoffs, die von Schönberg, dem Jazz und Experimenten mit Vierteltonmusik inspiriert ist. Sieben Kompositionen zwischen 1914 und 1930 erlauben einen Blick über die Entwicklung der musikalischen Sprache des Schülers von Max Reger.
Till Briegleb
Alle Aufnahmen bei Koch International
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen