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■ Berlinale-AnthropologieHinschauen oder sich herumtreiben

Nein, „Nixon“ werde ich mir richtig im Kino anschauen, unter Normalbedingungen. Es ist wie mit den Büchern. Die, welche ich wirklich zu lesen begehre, müssen gekauft sein statt als vorgebliches Rezensionsexemplar beim Verlag geordert.

„Nixon“ also will ich wirklich sehen, ja. Er war vor 25 Jahren so deutlich der Erzfeind, daß man jetzt das Bedürfnis verspürt, einmal komplett um ihn herumzugehen. Wenn ich Ihnen nicht von „Nixon“ erzähle, bringe ich mich um die Möglichkeit, Ihnen Anthony Hopkins als Hitler zu zeigen: Ich hatte damals das Fernsehbild fotografiert. Ich hätte darüber philosophieren können, daß ein Star vom Typus Hopkins' irgendwann den Hitler gespielt haben muß. Auch Alec Guinness, zu solchem Ruhm aufgelaufen, war einmal Hitler.

Statt „Nixon“ anzuschauen, treibe ich mich herum. Ich inspiziere die Spielstätten, wo jetzt Kino nicht unter Normalbedingungen, sondern festlich erhöht stattfindet.

In der Urania bin ich nie zuvor gewesen. Mit ihrem Vortragsprogramm, das von den Fortschritten des Urethralkatheters ebenso handelt wie von den neuesten archäologischen Funden auf Grönland und den Jungen Wilden in der Malerei der Achtziger, hielt ich sie stets für eine Art Arbeiterbildungsverein. Und ihr Publikum dachte ich mir wie dasjenige der „Komödie“ oder des „Theaters am Kurfürstendamm“, ältere, anspruchsvolle Berliner Kleinbourgeoisie.

Hier findet eine ordentliche Portion des Kinderfilmfests statt. Weshalb das untere Foyer ausschaut wie eine partymäßig aufgeschnatzte Kindertagesstätte, Draperien von bunten Tüchern verhüllen die kurzen, dicken Säulen – andere kindgemäße Ausschmückungen zu notieren habe ich versäumt: alles recht ungemütlich-offiziös. Dagegen paßt zum Genre „Arbeiterbildungsverein“, daß die Veranstaltungsorte den Genies der Menschheit geweiht sind, „Kleist-Saal“, „Einstein-Saal“, Kepler-Saal“. Im „Humboldt- Saal“ läuft eben „Frog, Where Are You?“ von Gary Templeton (USA). Ja, Frosch, wo bist du? (Eher eine Frage an Alexander von Humboldt, hihi.)

Alle Vorstellungen haben begonnen. So kann sich das Personal entspannen, ein Schwätzchen halten, ein Käffchen schlürfen. Ebenso dem Genre „Kindertagesstätte“ wie „Arbeiterbildungsverein“ rechne ich die stramme Fünfzigjährige zu, die leise drohend nach Unfugtreibenden Umschau hält, während sie ihren Kaffeetopf zu der Sitzgruppe hinträgt, um es sich gemütlich zu machen. (In der Kindertagesstätte: tobende Kleine; im Arbeiterbildungsverein: balzende, womöglich angetrunkene Junggockel.) Die Offizialdame in ihrer Stickweste – eierschalenfarben – hat die klassische Hartfaserfrisur (über deren Spesenabrechnung Carola von Braun als FDP-Vorsitzende stürzte – hier hätte ich zwanglos an Pat Nixon und Nancy Reagan anschließen können).

Läßt sich der Berlinale-Besucher identifizieren? In der Urania war ich sicher. Dieser Enddreißiger mit Fusselhaaren, Blouson, Umhängetasche (Klettverschluß) und feinrandiger Brille, der erregt-verantwortungsvoll aufgerissenen Auges zur schon verschlossenen Tür des Humboldt-Saals strebt – das ist gewiß einer, dachte ich, der „mit Kindern arbeitet“; und mir war wieder klar, warum von den „Kinderfilmen“ aus meiner Kindheit keiner im Gedächtnis blieb, während „20.000 Meilen unter dem Meer“ (mit James Mason) und „Die Abenteuer des Odysseus“ (mit Kirk Douglas) ja mein Leben bestimmten...

Zu den Sozialpädagogen mit Klettverschluß gesellte sich im Royal-Palast zwanglos die ungeschminkte junge Frau mit aschblondem Pferdeschwanz, die wehrlos lächelnd an der Kasse zur Kenntnis nahm, die Vorstellung sei ausverkauft, und es weiterlächelnd ihrer Freundin zur Kenntnis gab: „Was machen wir nun?“ Das Lächeln sagte, die Lage ist aussichtlos. Gegeben wurde ein extremer Gutmenschenfilm, dessen Ablehnung dich sofort in den Verdacht bringt, Nazi zu sein; dessen Regisseur einer großen Tageszeitung im Süddeutschen ein Interview gegeben hatte, das die Überschrift trug: „Es gibt keine Moral mehr.“

Das Publikum der Berlinale, wollte ich folgern, das sind die Jung- und Althippies. Ich war sicher, daß der Royal-Palast mit diesem psychedelisch ornamentierten Teppichboden aus der Nixon-Ära ausgelegt ist, und ich war verblüfft, daß es sich jetzt um eine Art Sternenhimmel mit blaugrünen Flecken handelt. Michael Rutschky

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