: Drei machen das Licht aus
Andres Veiel folgt in seinem Dokumentarfilm „Die Überlebenden“ (Forum) den Spuren dreier seiner Mitschüler, die sich umgebracht haben ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Im tiefblauen Dämmerlicht steht ein Haus. Das ist so weiß, als wäre es ein Märchenschloß. Dort trifft sich der Abitursjahrgang von 1979. Wortfetzen in häßlichem Schwäbisch, wir sind in Stuttgart-Möhringen, schwirren durch die verrauchte Luft. Männergesichter Mitte dreißig tauchen auf. Ihre Träger scheinen ganz überrascht, daß sie nun nicht mehr jung sind. Man versucht die witzigen Posen eines Klassenfotos nachzustellen. Das neue Foto sieht noch trostloser aus.
Einer mit ernstem Gesicht, er ist Pfarrer geworden, hält eine Rede. „Es fehlen drei, die zu unserer Gemeinschaft gehört haben. Und ich fände es schade, wenn wir die drei einfach vergessen.“ Thilo, Rudi und Tilman hatten sich Anfang der 80er Jahre das Leben genommen.
Der Filmemacher Andres Veiel („Balagan“) war ihr Mitschüler. Thilos Tod habe er nicht so leicht „wegstecken“ können, wie den der anderen, sagt er. So ging er zurück. In seinem sehr persönlichen Dokumentarspielfilm „Die Überlebenden“ versucht er, das „Porträt einer Generation“ zu zeichnen, „die scheinbar durch den Rost der Geschichte gefallen ist“.
Ein durchaus schwieriges Unterfangen, denn die „Generation“, die Veiel meint, entzieht sich eigentlich der Darstellung. Man mag kaum von einer Generation sprechen. Es sind die Normalen, die mit den uninteressanten Biografien; weder besonders spießig, noch besonders ausgeflippt.
In ihrer Schulklasse waren die drei Selbstmörder heimlich bewunderte, vereinsamte Außenseiter. Einer von ihnen verließ die Schule lange vor dem Abitur und ging nach Berlin; einer ging nach Schottland, einer studierte nicht weit vom Elternhaus; alle nahmen sich das Leben, als sie schon nichts mehr mit ihren Schulkameraden zu tun hatten. Der Gemeinschaft, für die sie der Pfarrer reklamiert, gehörten sie da nicht mehr an.
Bekannte, Freunde, Eltern, Geschwister, Arbeitskollegen erzählen von Thilo, Tilman und Rudi, doch keiner der Interviewten schien ihnen in ihren letzten Lebensjahren nahegestanden zu haben. So bleiben die Toten ein bißchen undeutlich. Diese Undeutlichkeit könnte man dem Film vielleicht vorwerfen. Vielleicht liegt darin jedoch auch seine Stärke. Veiel verzichtet darauf, die unspektakulären Biografiesplitter seiner Helden zu einer Geschichte zu verdichten.
Bei der Geschichte von Thilo Mattenklott, einem Hippie aus gutem Haus, der Musiker werden wollte, verrennt er sich zeitweise in Ästhetisierungen. Zur Deep-Purple-Ballade „Child in time“ wischen dann aufgeblasene alte Super-8-Aufnahmen von Thilo Mattenklott und Freunden als Videoclip in Zeitlupe vorbei, wie sie als Wald- und Wiesenhippies die langhaarigen Köpfe schütteln; Jazzrock ertönt zu S-8-Bildern von Thilo und Freunden in Amerika. Eine amerikanische Freundin erzählt roadmoviemäßig im fahrenden Wagen von ihrer Beziehung zu Thilo. Das sieht eine Weile aus wie der Film über einen Popstar und wirkt ein bißchen hilflos, weil Thilo eben kein selbstbewußt-männlicher Rebell war. Aber gerade diese Hilflosigkeit ist ehrlich, weil sie die Hilflosigkeit wiederholt, mit der sich Teenager stilisieren.
Thilo war ein Kleinstadtrebell, ein BRD-Hippie, der Jazz-Rock machte, durch die Gegend trampte, mit der RAF sympathisierte, die Stammheimprozesse besuchte und gegen die Oberklasseeltern rebellierte, die, wie eine ehemalige Freundin erzählt, ihn behandelt hätten, wie sie „kein Kleinkind“ behandeln würde. Er haßte seinen Vater. Verzweifelt suchte er nach Indizien, die beweisen sollen, daß der Vater ein Nazi gewesen sei. Irgendwann prügelt er sich mit dem Vater, irgendwann trampt er mit einem Freund nach Frankreich. Auf der Rückreise klauen beide ein Auto und werden von der Polizei geschnappt.
Zwei Monate muß Thilo sitzen. Danach erfüllt er lustlos die Vorstellungen des Vaters. Statt weiter Musik zu machen, studiert er Medizin. Schwere seelische Krisen sind die Folge, die Freundin verläßt ihn, irgendwann vergewaltigt er sie, irgendwann bezichtigt er sich des Mordes an einen Freund, der sich in Berlin das Leben genommen hatte, zeitweise landet er in der Psychiatrie. Als „Arzt im Praktikum“ arbeitet er in der Pharmaindustrie. Dann bringt er sich mit Autoabgasen um. Dokumentarisch wacklig wiederholt die Kamera die Wege des Toten. Dazu trauert das obglitorische Cello. Nach seinem Tod habe sich der Vater den Arbeitsplatz seines Sohnes angeschaut und sei sehr zufrieden gewesen, daß der Schreibtisch so ordentlich ausgesehen habe, erzählt jemand.
Thilo Mattenklott steht im Mittelpunkt des Films, die Biographien der anderen beiden Selbstmörder geraten dagegen etwas schemenhaft. Die „Überlebenden“ sprechen über die Toten. Traurig, unsicher, mitfühlend manche, andere aus der Arroganz wohlgeordneter Lebenseinrichtungen. Ein junger Bauer, der auf jede Frage Antwort weiß, sagt, jeder habe doch einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen: „Es könnte doch einem jeden passieren, daß er das Licht ausmacht“.
„Die Überlebenden“ ist ein wichtiger Film, auch wenn er ästhetisch nicht ganz überzeugt, ein Film, der einen — wie man so blöde sagt — zum Nachdenken bringt: über die Selbstmörder, die man kannte; über die trostlosen Endsiebziger Jahre, über die Schwierigkeit, die nicht nur in ihrem Geldverdienzwang latent depressive deutsche Normalität zu verfilmen.
„Die Überlebenden“, BRD 1995, 90 Min., Regie: Andres Veiel
Heute um 16.45 Uhr im Delphi, morgen um 20 Uhr im Arsenal, am 24.2. um 20.15 Uhr in der Akademie der Künste
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