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Nicht mehr wert als ein Elch

Jahrelang ist der Tod von zwei Indianern in Kanada als Unfall ausgegeben worden. Ein Fernsehteam ermittelte neue Indizien. Der Vorwurf: Polizisten und Richter haben Beweismaterial unterdrückt  ■ Aus Montreal Ralf Sotscheck

Es war noch dunkel, als Achille Vollant, 20, und Moise Régis, 21, mit ihrem Boot auf den Moisie hinausfuhren. Die beiden kanadischen Indianer vom Stamm der Montagnais waren im Reservat aufgewachsen und kannten den 900 Kilometer nordöstlich von Montreal gelegenen Flußabschnitt wie ihre Westentasche. An jenem Morgen war der Moisie spiegelglatt, es war nahezu windstill.

Kurz nach Anbruch der Dämmerung hörte ein Flußanwohner ein lautes Krachen und danach Schreie. Um acht Uhr fand man das orangene Ruderboot, die rechte Seite war eingedrückt. Von den beiden Montagnais keine Spur. Erst am nächsten Tag wurde die Leiche von Régis ans Ufer gespült. Fünf Tage später fand man auch Vollant. Das war am 15. Juni 1977. Die Untersuchung ergab, daß beide ertrunken waren.

Diese Behauptung ist 19 Jahre später nicht mehr haltbar. In einem Dokumentarfilm, der heute abend von Radio Canada Television ausgestrahlt wird, kommen Indizien ans Licht, die nur einen Schluß zulassen: Es war Mord, und die Behörden haben die Sache vertuscht.

Der Fall erregt deshalb die Gemüter in Quebec, weil viele der Beteiligten inzwischen hochrangige Polizeibeamte und angesehene Richter sind. Außerdem hat der Film bereits vor der Sendung die Diskussionen über das Verhältnis der Polizei zu den kanadischen Ureinwohnern wieder angeheizt.

Jean-Claude Le Floch, der Produzent von „18 Years of Silence“, ist davon überzeugt, daß die beiden Montagnais damals von den staatlichen Parkwächtern gerammt, verprügelt und danach im Fluß zurückgelassen wurden. Die Polizei sorgte dafür, daß die Indizien verschwanden.

So wiesen beide Leichname schwere Prellungen auf, nicht jedoch die für Ertrunkene typische Aufschwemmung. Im Polizeibericht war davon keine Rede. Allerdings vermerkten die Beamten, daß die Parkwächter an ihrem arbeitsfreien Tag ihr Boot repariert und frisch gestrichen hatten. Dennoch fanden die Polizisten orangene Farbreste – dieselbe Farbe wie an Régis' Boot. Das Boot aber war als Beweismittel nicht mehr zu gebrauchen: Um die Beerdigung bezahlen zu können, hatte Régis' Familie das Boot verkauft – an einen Polizisten, der es neu lackierte.

Den Richter interessierte das wenig. Bei seiner Untersuchung im September 1977 vernahm er 14 Parkwächter und zwei Montagnais. Letztere befragte er lediglich nach den Trinkgewohnheiten von Régis und Vollant, obwohl Blutproben ergeben hatten, daß beide nüchtern waren, als sie starben. Dieses Gutachten wurde als Beweismittel nicht zugelassen. „Es gibt in Quebec zwei Wahrheiten“, sagte Le Floch zur taz, „eine weiße und eine indianische. Wären das damals zwei weiße Jungen gewesen, wäre die Sache nie vertuscht worden. Aber ein Indianer ist nicht mehr wert als ein Elch.“

Die Bürgerrechtsorganisation Civil Liberties Union (CLU) wandte sich damals an den Justizminister Marc-André Bédard, um eine unabhängige Untersuchung zu erzwingen. Der fragte bei der Ortspolizei in Sept-Isles nach, die schon die erste Untersuchung geführt hatte, und entschied, daß alles seine Ordnung habe. In Anbetracht der Kontroverse, die Le Flochs Film in Quebec ausgelöst hat, hofft die CLU diesmal auf mehr Erfolg. Quebecs Sicherheitsminister Robert Perreault sagte, er ziehe eine Neuaufnahme „ernsthaft in Erwägung“.

Régis und Vollant und die Montagnais hatten 1977 keine Chance. Die Fischereirechte für den Moisie lagen bei privaten Angelvereinen, denen Quebecs Honoratioren aus Wirtschaft und Politik angehörten. Es kam ständig zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Montagnais, die für den eigenen Gebrauch angelten. So auch in jener Nacht im Juni 1977. In Le Flochs Film sagt ein Parkwächter aus, daß zwei seiner Kollegen Régis und Vollant verhaften wollten, aber „dann ging die Sache schief“. Benoit Tremblay, früher ebenfalls Parkwächter und heute ein bekannter Rechtsanwalt, sagt, die Polizei habe seinen damaligen Kollegen versprochen, sich „um die Angelegenheit zu kümmern“. Er sagt: „Zwei Niemande waren tot. Man hätte zwei angesehene Mitglieder der Gesellschaft Quebecs zur Rechenschaft ziehen müssen. Das war für die Behörden undenkbar.“

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