: Als sei das alles selbstverständlich
Nach vier Jahren Krieg besucht eine muslimische Familie ihre Eltern im bislang serbisch kontrollierten Vogošća, einem Vorort von Sarajevo. Die serbischen Nachbarn aber wollen gehen ■ Aus Vogošća Erich Rathfelder
Als die Tür aufgeht, weiten sich die Augen des alten Mannes. Er läßt ein paar Scheite Holz fallen und knickt in den Beinen ein. Sein Sohn fängt ihn auf, bevor er zu Boden schlägt. Zum ersten Mal seit fast vier Jahren schließen sich Vater und Sohn wieder in die Arme.
Eigentlich hätten sie in ihre Heimatstadt Vogošća noch nicht zurückkehren dürfen. Suvada Oglecevać und Ehefrau Kaduna haben es trotzdem versucht. Zu Fuß sind sie in eisiger Kälte von Sarajevo über den Hügel gewandert, der früher einmal die Frontlinie war. Gerade als sie an den zerstörten Häusern vorbei waren und in die Hauptstraße einbiegen wollten, wurden sie von bosnischen Polizisten gestoppt. „Noch ist die Lage unsicher, wir wollen keine Zusammenstöße provozieren“, sagten die Polizisten. Und die beiden kehrten wieder um.
Doch gelang es ihnen, ausländische Journalisten anzuhalten. Und in deren Auto setzen sie die Reise fort: Suvada, der knapp vierzigjährige Koch ohne Arbeit, und Kaduna, die etwas jüngere Bürotechnikerin, die seit Mai 1992 als Flüchtlinge in Sarajevo leben. Sie haben zwei Kinder, eines davon wurde als Flüchtling geboren.
Auch Vasija, die Großmutter, ist vom Wiedersehen überwältigt. Als sich die Tür im vierten Stock des modernen Wohnblocks in der Nähe des Stadtzentrums von Vogošća öffnet, wirft sie sich weinend in die Arme ihrer Schwiegertochter. Und sie küßt die mitgebrachten Fotos der Kinder immer wieder. Erst langsam beruhigt sich die Familie. Kaffee wird gemahlen und der Tisch gedeckt.
Eine Schwester Suvadas kommt hinzu, mit Töchterchen Romana. Sie hätten über die humanitäre Hilfe genug zu essen gehabt, berichten die Eltern. Im Gegensatz zu ihren Kindern aus Sarajevo sind sie nicht abgemagert. Von den Granaten berichtet der Sohn; von den Zweifeln, das zweite Kind auszutragen, die Schwiegertochter. Und immer wieder von den Ängsten um die Eltern hier in Vogošća.
Auch Nachbarn kommen zu Besuch. Erst Milo, dann Frau Dragana. Wie ihre eigenen Kinder nehmen sie die Neuankömmlinge in die Arme. Und sie freuen sich am Bild der Enkel. „Unsere Nachbarn“, sagt der Großvater, „sind gute Nachbarn.“ Sie sind Serben. Sie wollen die Stadt verlassen.
Die Schwiegertochter erzählt, daß den Serben in der Stadt Sarajevo nichts passiert ist. „Sie leben ganz normal wie wir auch.“ Doch Frau Dragana bleibt nachdenklich. „Wir sind Freunde. Wenn die Radikalen aus dem Sandžak kommen, sind wir dran.“ Schließlich kommt der wahre Grund für ihren Wunsch wegzugehen zutage. Sohn Bosko war bei der serbisch-bosnischen Armee. „Er hat es doch damals bei der Vertreibung der Muslime im Dorf Bratici nur gut gemeint“, rechtfertigt ihn Dragana. Im April 1992, als Bosko sich freiwillig zu den serbischen Freischärlern gemeldet hatte, nahm er an der Vertreibung der Muslime und Kroaten aus dem benachbarten Dorf teil. „Wären die Leute dort geblieben, wäre es ihnen später nur schlechter ergangen.“ Dragana blickt um sich, niemand sagt etwas. Alle bleiben freundlich.
Bosko, der Radikale, der Verbrechen begangen und Vogošća schon vor Wochen verlassen hat, holte auch den nach Belgrad geflohenen Bruder Zivko wieder zurück, an die Front. Zivko, der nicht kämpfen wollte, fiel drei Monate später. Die Eltern wollen dennoch weiterhin mit Bosko leben. „Wir werden schon eine neue Wohnung finden.“ Es fällt kein Wort der Kritik und auch nicht der Entschuldigung.
Vor dem Nachbarhaus ist ein Lastwagen geparkt. Ein kräftiger junger Mann packt Möbel in das Gefährt. Er sei Soldat gewesen, ja, deshalb müsse er jetzt gehen, sagt er. „Der Krieg ist jetzt vorbei. Ich habe drei Wünsche: niemals mehr eine Waffe anfassen zu müssen, meine alten Freunde wiederzutreffen und friedlich zu arbeiten und zu leben.“ Und die Granaten auf Sarajevo, waren die denn nötig? „Ich habe nur mein Volk verteidigt.“ War es das alles wert? „Vielleicht nicht.“ Er beklagt sich darüber, daß die serbische Armee ihm nicht beim Umzug hilft. Sechshundert Mark müsse er jetzt für den Lastwagen bezahlen, um dann in die Nähe der muslimischen Enklave Goražde, südlich von Sarajevo, gebracht zu werden. Dort habe man ihm immerhin eine Wohnung zugewiesen.
Im Erdgeschoß wohnt eine Familie, die bleiben will. Hinter der Tür ist eine Palette aufgebaut. „Die brauchen wir für die Nacht, gegen unliebsame Besucher“, lächelt der hagere, dunkelhaarige Mann, ein 35jähriger ehemaliger Ingenieur. Er sei Slowene, sagt er, sein Vater stammte von hier, deshalb sei er vor dem Krieg hier gelandet. „Über vier Jahre lang mußten wir uns vorsehen, jetzt sind wir endlich frei.“ Die Ehefrau – „ich komme aus Makedonien“ – will ihren Namen nicht nennen. „Erst wenn alle Radikalen weg sind.“ Der achtjährige Sohn dreht die Kaffeemühle.
Im Treppenhaus ist Getrappel zu hören. Die Familie des serbischen Soldaten bringt weitere Möbelstücke nach unten. „Vor dem hatten wir Angst“, sagt die Frau. „Der war Vojnik, Soldat, ein Radikaler.“ Am Anfang des Krieges hätte er ihn aufgefordert, in die serbische Armee zu kommen, erinnert sich der Ingenieur. Er weigerte sich. „Dann haben sie mich zum Ausheben der Gräben an der Front benutzt. Jeden Tag habe ich Schachtarbeiten ausführen müssen.“ Anfänglich umsonst, später bezahlt. „Zwanzig Prozent weniger als ein Soldat und zwanzig Prozent weniger als ein Serbe.“ Acht Mark wären das im Monat gewesen.
Die Familie hat sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen. Sie nähte Pantoffeln – „zwei Mark das Stück“ – aus Stoffresten, er füllte Benzin in leere Feuerzeuge. Sie bekamen auch Hilfe von der Flüchtlingsorganisation UNHCR.
Draußen sind laute Rufe zu hören. Der Lastwagen rangiert und fährt los. Die beiden laufen zum Fenster und sehen nach. Der serbische Nachbar ist weg. Es überrascht die Selbstverständlichkeit, mit der die Abfahrt hingenommen wird. Und auch die Selbstverständlichkeit, mit der der serbische Soldat verschwunden ist. Nach fast vier Jahren Kampf, nach fast vier Jahren Belagerung von Sarajevo.
Es klopft an der Tür. Eine andere Nachbarin – die in einem Wohnblock um die Ecke wohnt – tritt ein. Auch Amela S. konnte nur dank der humanitären Hilfe überleben. Sie ist Muslimin und hat sich vier Jahre in ihrer Wohnung versteckt. Als ehemalige Krankenschwester hatte sie auch noch Kontakte zu den „alten Serben“, wie sie sich ausdrückt, den „Gebildeten, den Einheimischen“. Die hätten sie unterstützt, ihr Lebensmittel gebracht, sie zu Hause besucht. Einige von denen würden bleiben, andere würden jedoch ebenfalls gehen. Viele Serben wären halt selbst Flüchtlinge oder Familien von Soldaten gewesen, die, mit dem Krieg hierhergekommen, jetzt auch wieder „leichten Herzens“ woanders leben könnten. Amela bringt Neuigkeiten. Vor dem Rathaus hätten sich einige hundert Serben versammelt. Und außerdem hätte das Lagerhaus des UNHCR gebrannt.
Der Wind weht eisig kalt. Aus der Wohnung des serbischen Soldaten gähnen leere Fensterhöhlen. Er hat am Ende noch die Fensterrahmen herausgerissen und in den Wagen gepackt. Viele der Wohnungen in den vierstöckigen Häusern sind jetzt ohne Fenster. Nur wenige Menschen sind auf der Straße zu sehen, vor einzelnen Häusern werden Lastwagen beladen. Drei bosnische Polizisten stehen fröstelnd an einer Straßenecke und weisen den Weg zum Lebensmittellager.
Noch schwelt das Feuer im Lagerhaus. Die aufplatzenden Kanister voller Speiseöl geben dem Feuer neue Nahrung, lassen die Flammen bis zur Decke steigen. In den Büroräumen sind nur noch verkohlte Balken zu bewundern. Das Feuer wurde in der Nacht zum Sonntag gelegt. Kris Janowski, Sprecher des UNHCR, weiß nicht, wer es gelegt hat. „Tatsache ist jedenfalls, daß wir es abgelehnt haben, uns an ethnischer Säuberung zu beteiligen. Wir haben keine Transportmöglichkeiten für jene bereitgestellt, die jetzt gehen wollen.“
Vor dem Rathaus stehen einige ältere Leute. Sie besitzen nicht die sechshundert Mark, um einen Lastwagen zu bezahlen. Doch auch einige Aktivisten der serbischen Nationalistenpartei SDS haben sich unter sie gemischt. Schon am Samstag hatte diese Gruppe vom UNHCR und von dem Ifor- Kommandierenden Leighton Smith gefordert, die internationalen Organisationen sollten für Transportmöglichkeiten sorgen. Schließlich hatte sich die serbische Republik bereit erklärt, Armeelastwagen zu schicken. Und Admiral Smith hatte dem serbisch-bosnischen „Präsidenten“ Momcilo Krajsnik, zugesagt – obwohl der Einsatz von Armeelastwagen in dieser Region gegen das Abkommen von Dayton verstößt –, die Lastwagen mit Ifor-Panzern zu eskortieren.
Doch die Armeelastwagen sind ausgeblieben. Und die Leute warten immer noch. Einige ihrer Sprecher beklagen sich nun darüber, daß die bosnische Polizei in die Häuser komme und Kontrollpunkte an den Straßen errichte. Polizisten der Internationalen Polizeitruppe wiegeln ab. Weder seien Menschen verhaftet worden, noch würden sie durch die Ausweiskontrollen der Polizei in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt. Doch die bosnische Polizei müsse wissen, wer überhaupt noch da ist, wer Hilfe braucht etc. „Wir überwachen das sehr genau“, sagt der Chef der internationalen Truppe, Fitzgerald. Er fordert jedoch von den bosnischen Polizisten, die Kontrollen an den Straßen einzustellen.
Auf dem Rückweg nach Sarajevo sind die Polizisten tatsächlich verschwunden. Suvada und Kaduna haben die kleine Romana mitgenommen. Sie wollen ihr Sarajevo zeigen. Und Romana, die bisher nur Vogošća kennt, staunt über die ersten Verkehrsampeln ihres Lebens. Sie wird einige Tage in der intakten Wohnung des Onkels zubringen. In dem Hochhaus in Dobrinja, dem von serbischen Granaten zerstörten Stadtteil am Rande Sarajevos.
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