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Einsicht vor Gericht

■ Prozeß um die Mauertoten: Schabowski erkennt das Gerichtsverfahren an - im Gegensatz zu Egon Krenz

Sichtlich angewidert verfolgt Egon Krenz die Erklärung seines früheren Politbüro- Kollegen Günter Schabowski. An führender Stelle haben zwar beide in den letzten Tagen der DDR den greisen Staatslenkers Erich Honecker gestürzt. Sechs Jahre später aber trennt sie ein Abgrund. Einzig der Vorwurf der Staatsanwaltschaft – Totschlag, begangen an Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze – führt Krenz und Schabowksi für jeweils zwei Stunden an zwei Wochentagen zusammen.

Vor dem Berliner Landgericht verteilt Schabowski verbale Ohrfeigen. „Anders als dieser oder jener hier in Saal“, konstatiert er mit ruhiger Stimme, „ziehe ich die Zuständigkeit des Gerichtes nicht in Zweifel.“ Das Wörtchen „nicht“ hat er in seinem Skript unterstrichen. Und damit will er sich von seinen Mitangeklagten abgrenzen. Außer dem letzten Staatschef Krenz sind das der frühere Parteikontrollkommissar Mückenberger, der gescheiterte Chefideologe Hager, Honeckers Intimus Dohlus und der für die marode DDR- Wirtschaft zuständige Kleiber.

Krenz und Co. haben den Prozeß als „völkerrechtswidrig“ angeprangert. Zuletzt tat dies Günter Kleiber, gestern kurz vor der Rede Schabowskis. „Nicht schuldig“, hatte der DDR-Wirtschaftslenker erklärt. Er stehe auch heute noch zu seiner „mit bestem Wissen geleisteten Arbeit“. Der Prozeß gehöre eingestellt.

Zwei völlig verschiedene Schreibweisen der Geschichte prallen aufeinander. Schabowski: „Der bundesdeutschen Rechtsprechung ist die neue Rolle durch den Lauf der Geschichte zugefallen. Sie befände sich nicht in dieser begünstigten Lage, wäre die DDR ohne jeglichen Makel dahingeschieden und nicht an Ablehnung und Widerstand der Menschen zugrunde gegangen.“ Betretene Gesichter bei den übrigen auf der Anklagebank. Schabowski läßt auch den Vorwurf seiner Exkollegen nicht gelten, wonach mit dem Prozeß der erste sozialistische Versuch auf deutschem Boden „delegitimiert“ werden solle. „Das System (...) hat vor dem Leben, vor der Wirklichkeit versagt.“ Die Mienen verfinsterten sich, im Publikum zischte einer: „Verräter“.

Nur an einem Punkt treffen sich die unterschiedlichen Auffassungen. Gegenüber jedem der Toten fühle er „moralische Schuld“, sagt Schabowski. Er könne aber nicht hinnehmen, „zum Schreibtisch- Totschläger erklärt zu werden“. Der Satz könnte von Egon Krenz stammen. Wolfgang Gast

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