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Das Leuchten von links

Mit seinen Gemälden konnte er nicht einmal die Rechnung beim Bäcker bezahlen, und außer Schulden hinterließ der Holländer Jan Vermeer, gestorben 1675, nur 35 Bilder, die eindeutig ihm selbst zuzurechnen sind. Wie unvergleichlich er das Spiel mit Licht und Schatten meistert, wie virtuos er die Sehnsüchte seiner kalvinistischen Zeit einfängt, hat erst die Nachwelt entdeckt. 23 Bilder Vermeers zeigt jetzt das Museum Mauritshuis in Den Haag – ein Jahrhundertereignis  ■ Von Christoph Müller

Wie es sich für jeden wirklich genialen Künstler gehört, wurde auch Jan Vermeer, seinem späteren Landsmann Vincent van Gogh nicht unähnlich, lange verkannt. Genaugenommen wurde er überhaupt nicht gekannt. Sein hinterlassenes Werk – es kann viel umfangreicher sein, als man heute weiß. Stück für Stück wurde es der Vergessenheit entrissen. Zu Lebzeit galt Vermeer, durchaus ordentlich im Geschäft, als nichts Besonderes. Die Schulden beim Bäcker konnte er nicht einmal mit dem Gegenwert eines Bildes begleichen. Die Konkurrenz war im „goldenen Zeitalter“ der holländischen Malerei erdrückend: Über sechshundert Maler lebten von der Kunst, von ihren drei Millionen Bildern ist höchstens ein Zehntel übrig geblieben.

Erst als der französische Reiseschriftsteller Bürger-Thoré 1866 in der Gazette des Beaux Arts, so will es die Kunstwissenschaft, auf Vermeer aufmerksam machte, begann man von ihm Notiz zu nehmen. Doch das ist Legende. Nicht Bürger- Thoré war es, dem die Wiederentdeckung Vermeers zu danken ist, sondern der englische Sammler John Smith, der schon 1833 über Vermeers „Ansicht von Delft“, die König Wilhelm I. als nationales Vermächtnis ankaufen ließ, gesagt hatte: „Im Haager Museum gibt es ein hervorragendes und ungewöhnliches Landschaftsgemälde, das alle Besucher fasziniert.“ Einer der Faszinierten war Bürger- Thoré und viel später Marcel Proust, der Vermeer vergötterte.

Im übrigen gibt es über Vermeer auch heute noch nicht viel zu berichten. Sein unauffälliges Leben als Kunsthändler und Kunstmaler zu Delft ist erst in den letzten Jahrzehnten nach der Archivlage rekonstruierbar geworden. Er war Sohn eines Webers und Kneipenwirts. Man weiß nun auch, wie seine Schwiegermutter hieß und daß er elf Kinder zu ernähren hatte – und im Alter von dreiundvierzig Jahren starb, hochverschuldet. Doch wie er aussah und auf welchen theoretischen Grundlagen seine Malerei basiert, darüber gibt es weiterhin nichts Aktenkundiges.

Einundzwanzig der ihm zugeschriebenen fünfunddreißig Ölgemälde sind diesen Winter in der National Gallery in Washington zu sehen gewesen; jetzt in Den Haag sind es noch zwei mehr, denn das Amsterdamer Rijksmuseum hat sich schweren Herzens entschlossen, auch noch die Milch eingießende Meisje und die geheimnisvolle Briefübergabe als Nachbarschaftshilfe rauszurücken. Zeichnungen, Druckgraphik oder Briefe gibt es keine – schon das unterscheidet Vermeer von seinen Kollegen!

Nehmen wir also die Bilder, die sie ihm zuschreiben. Fast alle sind signiert, ein gerade erst entdecktes gar zweimal (die „Heilige Praxedis“, wie sie als römische Christin den blutigen Schwamm eines geköpften Märtyrers auswendet, und eine wenig bedeutende Kopievariante eines italienischen Bildes von Felico Ficherelli).

Ob die Signaturen alle echt sind, weiß der Himmel. Es kann gut sein, daß von den fünfunddreißig Vermeers noch der eine oder andere vom einen oder anderen Kunsthistoriker in Zweifel gezogen wird; nicht zuletzt das „Mädchen mit rotem Haar“, dessen Pendant „Mädchen mit Flöte“ bereits abgeschrieben worden ist und jetzt nur noch, ebenfalls in der Ausstellung, als „Vermeer-Umkreis“ firmiert (die zwei sind die einzigen, die nicht auf Leinwand, sondern auf Holz gemalt wurden).

Dann seien es aber, ziehen wir zwei weitere relativ belanglose Jugendwerke aus der Einlernphase ab (beide in der Ausstellung der noch ganz auf Utrechter Caravaggisten-Art gestaltete Edinburgher „Christus bei Martha und Maria“ und die verträumt abgewandten Den Haager „Diana“- Jagdgefährtinnen), nur noch dreißig. Die aber sind samt und sonders Wunderwerke.

Jetzt müßten schon wieder Vorbehalte angemeldet werden, denn es geht um die ungeklärte Entstehungszeit der Bilder. Zwei nur sind datiert. Die Chronologie läßt sich bestenfalls stilistisch begründen. Sie liest sich in jedem Buch über Vermeer anders. Auch da meint die Den Haager Ausstellung definitive Klarheit geschaffen zu haben.

Doch wie es sich mit der Untermalung und der chemischen Analyse ihrer Farbpigmente verhält und wo jeweils die mit bloßem Auge erkennbaren Einstiche der Nägel auf der Leinwand sind, mit deren Hilfe Vermeer Perspektivenkorrektheit garantierende Fäden zog, sei uns egal. Jetzt spreche nur noch der Meister, auch wenn er seine Geheimnisse des Wie- wann-wo-warum-Wodurch wahrt. Die Sinnlichkeit, die Reinheit, die Poesie, die Strahlkraft seiner Bilder sind von solcher Frische und Unmittelbarkeit, daß man als Betrachter in Verwirrung gerät. Objektiv und Subjektiv geraten beim Sehen und Nach-Fühlen durcheinander.

Auch wenn sie einen nicht direkt ins Auge fassen, sind die Vermeer-Frauen (seine weit seltener dargestellten Männer sind entweder mit welterforschenden Vermessungen oder aber schlicht sexualbegierig als Frauenbelagerer tätig) ein Spiegel der Seele – ihrer Seele und unserer Seele. Sehnsüchte, streng kalvinistisch moralgesteuert, drücken sich aus. Sehnsüchte wonach?

Die eine schreibt oder liest einen (Liebes-)Brief, die andere betrachtet versonnen ihre Perlenkette im Spiegel, die dritte lächelt allwissend oder senkt verschämt den Blick, die vierte ist mit Milcheinschenken oder Goldabwägen oder Klöppeln beschäftigt, gleich zwei klimpern am Spinett und wenden sich dabei voll dem Bildbetrachter zu (Musik und Sexualität, im 17. Jahrhundert ein beliebtes Emblematikthema), und nur die letzte greift sich schwerbarock als Glaubensallegorie an den Busen (das unglaubwürdigste Bild Vermeers).

Vermeer hat, bis auf zwei glanzvolle Stadtansichten, nur Personen gemalt. Keine Landschaften, keine Außenwelten. Seine Personen steckt er in genau abgezirkelte Binnenräumlichkeiten, die – mit oder ohne Camera obscura – so raffiniert verwinkelt und verwickelt sind in der Perspektive, daß sich nur schichtweise die (Sicht-)Barrieren wegräumen lassen. Zwischen Nähe und Distanz, zwischen Seele und Raum hat Vermeer neue Dimensionen erschlossen.

„Genremalerei“ nennt man das, wenn Personen nicht nur als Porträts, sondern in einer Alltagsbeschäftigung dargestellt sind. Doch bei Vermeer wirkt die jeweilige Beschäftigung wie eingefroren. Alles kommt zur Ruhe, zum Stillstand. Er stoppt die Zeit und hält den Moment des Bewegungs- und Handlungsablaufs an: Der Schnappschuß wird zur Quintessenz, der individuelle Gemütszustand zum allgemeinmenschlichen Befindlichkeitsbarometer.

Komplexer lassen sich psychische Zustände nicht von örtlichen Gegebenheiten abhängig machen. Durch das Butzenscheibenfenster strömt ein alles formendes Licht, meist von links. Die Hinterwand ist vollgesogen von diesem schattenwerfenden Lich, ihre Kahlheit zum Greifen real. Den Kommentar zur Situation der dargestellten Person gibt oft ein Bild im Bild (die Ikonographen haben ganze Arbeit geleistet beim Aufschlüsseln dieser anspielungsreichen Bedeutungsdoppelebenen).

Und dann der Löwenkopf-Stuhl. Er wird so lange hin und her gerückt, bis er eine eigene Rolle als Raumzerteiler spielt. Seine Goldknöpfe auf dem Leder funkeln wie die geometrischen Stoffmuster der nie fehlenden Vorhänge, Tücher und Teppiche, Inbegriffe einer keineswegs nur dekorativ gemeinten Stofflichkeit. Die Tiefe des Raums ergibt sich aus den Bodenfliesen und wie sie ihre Rautenform zueinander ordnen (der ganze Mondrian steckt da schon drin).

Es gibt keine Bilder, die präziser, kalkulierter ausbalanciert sind als die von Vermeer. Da bezieht sich alles auf alles völlig harmonisch. Und ist die Fensterscheibe blau getönt, dann färbt sich der ganze Raum bläulich ein, das Blau färbt ab, Lokalfarben lösen sich auf, die Spektralanalyse triumphiert (das beste Beispiel dafür ist die New Yorker „Junge Frau mit Krug am Fenster“).

Blau ist Vermeers Lieblingsfarbe. Mit Zitronengelb kombiniert, ergibt das Zusammenstellungen, die keiner anderen Farbe mehr Entfaltungsmöglichkeit lassen.

„Die Kunst der Malerei“ heißt Vermeers vermächtnishaftes Bild, das sich im Wiener Kunsthistorischen Museum befindet und das in der Ausstellung am schmerzlichsten vermißt wird. Vermeer, den man auf diesem großen Bild als Rückenansicht beim Ma len eines Lorbeerkranzes für die Geschichtsmuse Clio sehen kann, sagt damit nicht weniger, als daß der Malerei der erste Rang unter den Künsten zustehe. Und wie er das malt, das beweist, wie recht er hat.

Vor allem auch beim mittleren Frühwerk hat die Ausstellung Lücken. Alle drei Bilder der New Yorker Frick-Collection gehören dazu, aber auch das zweite Berliner und Pariser Bild. Am schofelsten hat sich Dresden verhalten, denn es gab keins seiner zwei Vermeer-Bilder heraus. Die fehlenden sind alle in den großstädtischen Museen nachzuholen: Der abwegige Londoner Vorort Kenwood wird mit seinem Gitarrenspielerinnen-Lächeln allerdings wohl nur den anlocken, der auch den allerletzten Vermeer nicht ungesehen lassen will.

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