: Immer Richtung Robinson-Club
Das Musicaltheater Berlin bleibt erst mal, bald legt Schwenkow los, am Potsdamer Platz wird gebaut, und dann könnte Berlin die deutsche Musical-Stadt Nr. 1 werden. Ein Rundblick ■ von Miriam Hoffmeyer
Laserblitze zucken. Der Baß wummert. Robbie, der Roboter, dreht eine Pirouette auf Rollerskates. „O schöne neue Welt!“ seufzt Miranda, als sie den flotten Captain Sturm erblickt, und dann singt sie: „Why must I be a teenager in love?“ Vor drei Jahren zog die Firma Lighthouse Productions mit dem Musical „Shakespeare & Rock 'n' Roll“ in das Theater der ehemaligen Freien Volksbühne. Jetzt sind die Reihen im Zuschauersaal nur schütter besetzt.
„So leer war es aber noch nie!“ beteuert der freundliche Gymnasiast, der im Foyer die Merchandising-Produkte mit dem bunten Shakespeare-Porträt verkauft: Videos, CDs, Buttons, CD-ROMs (40 Mark) und Sweatshirts (45 Mark). Aber auch das macht die Lighthouse-Kassen nicht voll. Die Räumungsklage läuft, der Erlös aus dem Kartenverkauf geht direkt ans Finanzamt.
Was haben die Produzenten falsch gemacht? „Shakespeare & Rock 'n' Roll“ hat phantastische Lichteffekte, gutgebaute Tänzer im Glitzerkostüm, ein pfiffiges Bühnenbild. Und die Musik, lauter Ohrwürmer der 50er und 60er Jahre, sollte eigentlich genug Fans herbeilocken, um ein Theater zu füllen. Die Zuschauergrüppchen, die vor der Leere des riesigen Foyers an die Pausenbar geflüchtet sind, sind durchaus zufrieden – auch wenn sie erfolgreichere Musicals kennen. „Ich war schon dreimal in ,Starlight-Express‘“, erzählt eine hübsch frisierte und gestylte Dame aus Bochum, die in Berlin an einem medizinischen Kongreß teilnimmt. „Und in ,Cats‘, ,Phantom der Oper‘, ,Miss Saigon‘...“, fügt ihre Kollegin stolz hinzu. „Mir gefällt's sehr gut hier. Nur die Musik ist ein bißchen laut, aber so ist das heute nun mal.“
Die Gruppe aus Bochum hat diesen Abend schon lange im voraus geplant und ist entschlossen, sich gut zu amüsieren. Das typische Musical-Publikum, erklärt der Berliner Professor für Kulturmanagement, Klaus Siebenhaar, wolle keine Überraschungen, sondern das perfekt geplante Vergnügen. Seine Studenten haben die Besucher von Berliner Musicals einige Wochen lang beobachtet und ihre soziale Heimat im „Harmonie- und Integrationsmilieu“ geortet. Der ideale Ort für ein Erfolgsmusical sei deshalb eine Halle auf der grünen Wiese wie der „Miss Saigon“-Tempel in Stuttgart-Möhringen, meint Siebenhaar: „Abgeschottet von der Außenwelt und innen voller Wunderpracht, so sicher wie der Club Robinson.“
In Berlin läßt sich so etwas nicht bauen. Die Ablenkung durch andere kulturelle Angebote ist groß, dazu kommen logistische Probleme. Ein Hauptziel bei der Renovierung des Schiller Theaters ist denn auch die Vermehrung der Parkplätze. Im vergangenen Herbst hat die Stella Musical AG, das marktbeherrschende deutsche Musical-Unternehmen, zusammen mit Peter Schwenkows Berlin Entertainment Companies das Theater gepachtet. Irgendwann sollen dort einmal neugeschriebene „Historicals“ über die Berliner Geschichte gezeigt werden, aber konkrete Pläne dafür gibt es nicht.
Ab April wird erst einmal ein Gastspiel gezeigt: der Lloyd-Webber-Dauerbrenner „Phantom der Oper“, produziert ausgerechnet von dem Mannheimer Wolfgang Bocksch, der das Schiller Theater gern selbst bekommen hätte. Nächstes Jahr soll als erste Eigenproduktion ein Musical über den Chansonnier Jacques Brel über die Bühne gehen.
Vor allem: Schönheit, Schmerz und Seele ...
Das Wichtigste an einem erfolgreichen Musical sei „eine gute Story“, meint René Meyer-Brede, geschäftsführender Theaterleiter des Schiller Theaters, und rümpft die Nase über den Mann, der „Shakespeare & Rock 'n' Roll“ nach Berlin geholt hat: „Friedrich Kurz? Wer ist das?“ Tatsächlich ist dieses Musical nicht gerade überzeugend. Das Textbuch mit seinen wahllos zusammengesuchten Zitaten aus verschiedenen Shakespeare-Stücken zeichnet Figuren, deren Gefühlswirrwarr keiner mehr nachvollziehen kann. Auf die großen Gefühle aber kommt es an. „Es geht um Träume, Tränen, Herzklopfen, Schönheit, Phantasie, Schmerz, Seele...,“ schwärmt Meyer-Brede.
Das Gefühl ist eine der Säulen, auf denen das Stella-Imperium aufgebaut ist. Die andere Säule ist das exzellente Kartenvertriebssystem. Ab dem nächsten Jahr wird es die bislang härteste Bewährungsprobe zu bestehen haben, denn dann will Stella bereits den neuen Musical-Palast auf dem Potsdamer Platz eröffnen. Allabendlich werden dort und im Schiller Theater mehr als 3.000 Plätze für Musical-Besucher bereitstehen. Aber getanzt und geträllert wird auch im Theater des Westens und im Metropol-Theater und in der ehemaligen Freien Volksbühne, die zusammen fast 4.000 Plätze haben. Keine andere Stadt in Deutschland wird dann ein so riesiges Musical-Angebot haben.
Bei Stella ist man optimistisch, daß die Theater trotzdem voll werden: 65 bis 80 Prozent der Zuschauer sollen von außerhalb Berlins kommen. Die Musical-Tempel in Hamburg, Bochum, Duisburg und Stuttgart sind schließlich auch immer ausverkauft. Die Besucher von außerhalb übernachten und essen in der Stadt, sie fahren Taxi und kaufen ein. Die Touristen, die zum „Phantom der Oper“ und zu „Cats“ nach Hamburg fahren, geben dort jährlich 400 Millionen Mark aus. Auch in Berlin setzt man auf Musicals als Touristen-Magneten. „Wer zum Musical nach Berlin kommt, wird sich auch die Museen anschauen und die Kulturlandschaft insgesamt genießen“, sagt der Kultursenator Peter Radunski, selbst ein Fan des Genres. Trotzdem müsse die finanzielle Förderung „die Ausnahme bleiben“.
Die öffentliche Hand finanziert in Berlin nicht nur das Metropol- Theater und das Theater des Westens – 1995 mit zusammen 56 Millionen Mark Subventionen –, sondern über eine extrem niedrige Miete auch die Produktionen im Schiller Theater. Damit steht Berlin allerdings nicht allein. Hamburg zahlt die Betriebskosten für den „Cats“-Palast, Bochum hat „Starlight Express“ mitfinanziert. „Musicals bringen immer mehr ein, als dafür ausgegeben wird“, glaubt der Pressesprecher der Kulturverwaltung, Lutz Nebelin.
Roland Berger, neuer Geschäftsführer der Lighthouse Productions, ist aufgrund der bitteren Erfahrungen mit „Shakespeare & Rock 'n' Roll“ skeptischer. „Berlin ist ein extrem schwieriger Standort“, klagt er und zählt die Malaisen auf: Es gibt zu wenige große Firmen, die Geschäftskunden ausführen müssen. Das Berliner Durchschnittseinkommen ist niedriger als in Westdeutschland. „Und die Leute aus dem Umland haben ihren Grundbedarf an Anschaffungen noch nicht gedeckt.“ Trotzdem will Berger weitermachen und wieder in die schwarzen Zahlen kommen, nachdem er jetzt den spektakulären Machtkampf gegen seinen Mitgesellschafter Friedrich Kurz gewonnen hat.
Vom Aufstieg und Fall des Herrn Friedrich K.
Der Musical-Pionier Kurz wurde 1990 aus der Stella AG, die er gegründet hatte, ausgekauft. Drei Jahre später floppte er mit „Sag mir, wo die Blumen sind“ im Theater am Kurfürstendamm. „Direkt aus der Marlene-Pleite kam dann die neue Produktion, die hatte die Nackenschläge davon noch zu tragen“, sagt Roland Berger, der erst im letzten Jahr bei Lighthouse Productions eingestiegen ist. Zusammen mit dem dritten Gesellschafter beschloß Berger im Dezember, das Kapital des maroden Unternehmens zu erhöhen und Kurz als Geschäftsführer abzusetzen. Eine einstweilige Verfügung gegen diesen Beschluß wurde in zweiter Instanz aufgehoben. Aufstieg und Fall des Friedrich Kurz wären wohl selbst kein schlechter Musical- Stoff.
In sicherer Distanz zum kommerziellen Haifischbecken wirtschaften die staatlich subventionierten Bühnen. Das Metropol- Theater ist die einzige Berliner Bühne mit einem Repertoire- Programm an Operetten und Musicals. Hier gibt es eine solide Grundversorgung ohne große Überraschungen. Auf dem März- Spielplan stehen etwa die Klassiker „My Fair Lady“, „Anatevka“ oder auch die „West Side Story“. Die Platzauslastung lag 1995 nur bei bescheidenen 53 Prozent.
Das Theater des Westens begeht in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag. Im Zuckerbäcker-Bau an der Kantstraße laufen pro Jahr vier En-suite-Produktionen, normalerweise ein neues Stück und drei Wiederaufnahmen. Das Jubiläumsjahr bietet drei Neuinszenierungen. Die erste fand beim Publikum wenig Gnade: „Johnny Johnson“ von Kurt Weill lief fünf Wochen lang vor halbleerem Haus. Jetzt wird für das Baseball-Musical „Damn Yankees“ aus den 50er Jahren geprobt.
Neues Deutsches gibt's bislang fast nur im Off
Neugeschriebene deutsche Musicals zeigt das Theater des Westens nicht. „Ich kriege haufenweise Exposés und CDs zugeschickt, aber das ist alles nicht spielbar“, erzählt der Intendant Helmut Baumann. „Die Songtexte ziehen einem die Schuhe aus, von der Musik ganz zu schweigen – das ist diese Fahrstuhlmusik, die man überall hört.“ Zudem hat der teure Flop mit dem „Blauen Engel“ 1992 den Intendanten vorsichtig gemacht: „So große Dinge verbieten sich, das ist auch eine Kostenfrage.“
So etwas wie ein neues deutsches Musical kann man im Berlin nur im Kreuzberger Kama sehen, das seit Jahren originelle Uraufführungen auf die Bühne bringt. Aber das winzige, nicht subventionierte Theater mit seinen 99 Plätzen kämpft um sein Überleben. Für die nächste Premiere – ein Musical über Judy Garland – fehlt das Geld für Bühnenbild und Kostüme. „Wir krepeln vor uns hin, aber wir geben Newcomern eine Chance. Das können wir besser als die großen Theater“, sagt die Geschäftsführerin Eva-Maria Biecker. Die Aktivitäten von Kama und der freien Gruppe College of Hearts seien nur der Anfang, glaubt Professor Stanley Walden, der die Musical-Ausbildung an der Hochschule der Künste leitet: „Es wird wieder ein deutsches Musical geben.“ Walden plant jetzt auch Workshops für deutsche Musical-Komponisten.
Aber gegen die Konkurrenz der kommerziellen Lizenzproduktionen aus England und den USA haben Experimente mit einem eigenständigen deutschen Musical keine sehr guten kommerziellen Chancen. „Neue Formen könnten eigentlich nur die subventionierten Theater entwickeln“, meint Professor Siebenhaar. „Die sollten sich mehr Experimente leisten.“
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