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Die Aussiedler, die bereits hier sind, geraten in Angst vor ihren Landsleuten: den Deutschen. Diejenigen, die noch auf eine Einreise warten, fürchten einen Zuzugsstopp. Derweil geraten die Politiker aller Parteien immer tiefer in den Streit

Die Aussiedler, die bereits hier sind, geraten in Angst vor ihren Landsleuten: den Deutschen. Diejenigen, die noch auf

eine Einreise warten, fürchten einen Zuzugsstopp. Derweil geraten die Politiker aller Parteien immer tiefer in den Streit

Eine depressive Lage

Aufgeregte Stimmen schwirren durcheinander. Mal klingen sie russisch, mal deutsch. Die Gruppe von Menschen im trostlos grauen Hof des alten Hotels debattieren heftig. Es soll neue Gesetze geben, neue Gesetze für Aussiedler. Und sie sind Aussiedler. „Kriege ich noch meine Invalidenrente?“, fragt ein Mann verunsichert. „Was steht in diesem Gesetz überhaupt drin?“

Keiner weiß es. Bislang haben nur Gerüchte die Menschen aus Kasachstan, Sibirien, dem Kaukasus und aus Usbekistan erreicht. Denn obwohl sie seit sieben, acht oder zehn Monaten, manche auch schon seit zwei Jahren im südbadischen Lahr leben, tun sie sich mit deutschen Zeitungen oder Nachrichten schwer. Aber vielleicht ist das auch gut so: So bekommen sie auch nicht mit, daß sie unlängst zum Wahlkampfthema „erhoben“ wurden. Und den einen oder anderen bösen Leserbrief in der lokalen Presse über die „schmarotzenden Russen“ haben sie so auch nicht gelesen.

Dabei sind sie eigentlich Deutsche – wie Jakob Leis. Sein Bruder lebt seit 25 Jahren in Köln, und seine zwei Schwestern sind auch schon seit einigen Jahren in Deutschland. Jakob selbst ist mit seiner russischen Frau Larissa und seinen zwei Söhnen vor sieben Monaten aus Kasachstan nach Lahr gezogen. Seither leben Larissa, Kerril, Ilja und er im ehemaligen Hotel „Adler“. Lange düstere Gänge führen zu den zwei Zimmern der Familie. Jede Tür gleicht hier der anderen, der Putz blättert von den Wänden. „30 Familien leben hier“, erklärt Larissa, die gastfreundlich in ihr ordentlich aufgeräumtes Domizil einlädt. Es sind die ersten „eigenen“ vier Wände, die sie und ihre Familie in Deutschland haben.

780 Mark Miete müssen Jakob und Larissa dafür bezahlen. Das sei viel Geld, zumal sie ihre Sozialhilfe noch nicht bekommen hätten. Bislang, solange Jakob und Larissa den sechsmonatigen Sprachkurs besuchten, erhielten sie Eingliederungshilfe: 220 Mark in der Woche und 400 Mark Kindergeld. Im Moment fehlt ihnen das Geld. „Deshalb suchen wir eine richtige Wohnung.“ Denn auch das Sozialamt habe darauf gedrängt, daß sie sich eine billigere Unterkunft suchen, erzählen Jakob und Larissa.

Beide haben bereits bei der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft vorgesprochen. Die hatte bis vor kurzem 1.000 bundeseigene Wohnungen zu vergeben, in denen bis vor zwei Jahren kanadische Streitkräfte und ihre Angehörigen lebten. Inzwischen sind diese Wohnungen längst wieder bewohnt.

Obwohl Larissa als Russin kaum ein Wort deutsch spricht, gibt sie sich optimistisch. „Ich hoffe, daß die deutsche Sprache kommt. Dann kommt alles andere auch.“ Die 32jährige Rechtsanwältin aus dem kasachischen Karaganda weiß, daß die Sprache wichtigste Voraussetzung ist, um in Deutschland eine Arbeit zu finden. Ihr Mann, ein Jahr älter als sie, hat schon bei verschiedenen Betrieben vorgesprochen. Alle seien freundlich zu ihm gewesen, eine Arbeit konnten sie dem ehemaligen Schlosser jedoch nicht anbieten. Denn in Lahr ist die Arbeitslosenquote nach dem Abzug der Kanadier in die Höhe geschnellt. Konstant liegt sie bei zehn Prozent.

Dennoch haben es Larissa und Jakob bislang nicht bereut, nach Deutschland gekommen zu sein. „Die Verwandten in Deutschland haben uns gerufen“, erzählt das Paar. Aber das sei nicht der eigentliche Grund. „Der Nationalismus in Kasachstan hat so zugenommen.“ Darunter litten nicht nur die Deutschen dort. Larissa mußte sich sagen lassen, „du bist Russin, also mußt du nach Rußland gehen“.

Und dann erzählt Larissa, daß immer mehr Kasachen aus der Mongolei nach Kasachstan kämen. „Die kriegen dann die Arbeit, und die Deutschen und die Russen müssen abwarten, ob für sie etwas übrigbleibt.“ Die wirtschaftliche Situation im Land sei schlecht, außerdem würden die Löhne nicht ausbezahlt. Jakob, der die letzten zwei Jahre in einem Bergbaubetrieb gearbeitet hat, berichtet: „In der ganzen Zeit habe ich nur für vier Monate Lohn bekommen. Sonst gab es nur Naturalien.“

Und dann gab es da noch die Angst: die Angst vor der unsicheren politischen Lage in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Larissa blickt noch immer leicht besorgt: „In Kasachstan gab es für unsere Kinder keine Perspektive.“ Der achtjährige Ilja und der neunjährige Kerril sprechen inzwischen schon besser deutsch als ihre Eltern. Sie besuchen eine „internationale Förderklasse“ in einer Lahrer Grundschule.

Hätten sie ältere Geschwister, würden diese die Theodor-Heuss- Hauptschule besuchen. Die ist durch den starken Bevölkerungszuwachs der Stadt seit 1990 von 200 Schülern auf das Dreifache angewachsen. Die Hälfte der Schüler sind Rußlanddeutsche, viele ohne Deutschkenntnisse. Und die Schule platzt aus allen Nähten.

Larissas Söhne spielen mit den Kindern der Verwandten, die schon länger in Lahr leben. „So lernen unsere Kinder deutsch. Und vielleicht spielen sie ja irgendwann auch mit den Einheimischen.“ Eines bereitet ihr Sorgen: die jugendlichen Spätaussiedler, die abends auf der Straße zusammenstehen. „Sie wissen nicht, wo sie ihre Freizeit verbringen sollen“, sagt Larissa. „Sie lärmen nicht, sie langweilen sich.“ Das tue ihr leid. Es fehle jemand, „der den Jugendlichen Ideen gibt und den Weg zeigt“. Andrea Drescher

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