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Ministaat mit Großstrategie

Qualitätstouristen statt Duty-free-Schnäppchenjägern: Das Pyrenäen-Fleckchen Andorra sucht nach einer neuen touristischen Perspektive  ■ Von Reiner Wandler

„Öffnen Sie bitte den Kofferraum!“ sagt der spanische Grenzpolizist höflich, aber bestimmt. Ein Videorecorder, ein CD-Player und ein paar Flaschen Champagner stehen, fein säuberlich in Einkaufstüten verstaut, neben den Reisetaschen und den Skistiefeln. Ein kurzer prüfender Blick, dann winkt er das junge Pärchen im schnieken Sportcoupé durch: „Weiterfahren!“ Übersehen hat der Grenzbeamte die 6.000 Mark teure Luxusarmbanduhr, die der Mann am Handgelenk trägt. Hier oben im Steuerparadies Andorra kostet sie 1.000 Mark weniger. Schwein gehabt, für die beiden Einkaufstouristen aus dem nahen Barcelona hat sich das Wochenende ausgezahlt. Denn nur Waren bis zu 950 Mark pro Kopf dürfen aus Andorra in die Europäische Union zollfrei eingeführt werden.

Die Rechnung „billige Markenprodukte, Schnee und Sonne“ ist für den Kleinstaat in den Pyrenäen mal wieder aufgegangen. „Fünf Prozent des gesamten Jahresgeschäftes haben wir allein am ersten Wochenende im Dezember gemacht“, sagt Adolfo Vilanova, Vorsitzender des Hotel- und Gaststättenverbandes. Dank zweier Feiertage nutzten viele Spanier ein verlängertes Wochenende zum Besuch im Nachbarland. Kein Wunder, daß kaum eins der 25.000 Betten leer blieb. Pro Jahr kommen 8 Millionen Besucher, die Tagesausflügler mitgezählt, nach Andorra. Trotzdem sind die Betten übers Jahr nur zu 60 Prozent ausgelastet: „Wir leben von Wochenendtouristen und Kurzbesuchern, die nur zum Einkaufen heraufkommen“, erklärt Vilanova, „unter der Woche ist tote Hose.“

Andorras Einzelhandel wuchs in zwei Schüben. In der Nachkriegszeit lebten die Händler von den Franzosen, die hier all das kauften, was es in ihrem kriegsgeschwächten Land nicht gab. Später kamen die Kunden aus Franco- Spanien, auf der Suche nach Wohlstandsprodukten und nach in Mexiko oder Paris verlegter Exilliteratur sowie Schallplatten. Die Hauptstraßen von Andorra la Vella und Escaldes, den zwei größten Orten, wuchsen sich zu großstädtischen Einkaufsmeilen aus. „Seitdem auch in Spanien das Warenangebot europäischen Maßstab erreicht hat und immer mehr Kaufhausketten vor allem Elektroprodukte fast zum gleichen Preis anbieten wie das steuerfreie Andorra, bröckelt der Einkaufstourismus“, kommentiert Vilanova die Geschäftsentwicklung. Eine Umstellung tut also not. Die Regierung hat einen Strategieplan für die nächsten Jahrzehnte in Auftrag gegeben. „Kein einziges Land, außer vielleicht Singapur, hat bisher eine solche globale Strategie entworfen“, sagt Projektchef Cuno Pümpin im Vorwort zu seinem Plan. Der Professor für Betriebswirtschaft der Universität in Sankt Gallen kennt sich im Hochgebirgstourismus aus.

Andorra, ein Land ohne Rohstoffe und Energiequellen, muß sich „auf Dienstleistungen mit hohem Mehrwert stützen“, heißt es im Plan. Die Zukunft liege in einem vielfältigeren, auf den Qualitätskunden zugeschnittenen Konzept, vor allem auch für die Sommermonate. Drachenfliegen, Klettern, Trekking, Angeln im Hochgebirge sollen angeboten werden. Ganz vorn im Strategieplan steht „eine Verbesserung der Infrastruktur“. „Von Toulouse herauf, warten wir seit 1968, als Charles de Gaulle uns einen Tunnel versprach, vergebens auf einen Ausbau“, sagt Vilanova enttäuscht. Von Barcelona, dem nächstgelegenen Flughafen, dauert die Anreise auf der neuen Schnellstraße jetzt aber nur noch gut zwei Stunden.

Natürlich „werden auch weiterhin die Winteraktivitäten Vorrang haben“: Dabei steht der Ausbau der sechs Skigebiete mit insgesamt 219 Kilometern Abfahrten an erster Stelle. Allen voran Pas de la Casa, mit 75 Kilometern das größte des Landes. „Wir können zwar bei den Pisten nicht mit den Alpen mithalten. Aber wir sind das wichtigste Wintersportgebiet in den Pyrenäen und damit für Spanien und weite Teile Frankreichs interessant“, erklärt Hotel- und Gaststättenchef Vilanova. „Hier schneit es ab und an ein paar Tage, ansonsten scheint die Sonne – ganz anders als der graue stürmische Alpenwinter.“ Besonders jugendliche Schneesurfer fühlen sich im mediterranen Schneeparadies wohl.

Der Skizirkus soll künftig entsprechend eingebettet werden. Davon zeugt ein überdimensionaler Bergkristall aus Stahlbeton und Spiegelglas. La Caldea, ein 70 Milliarden Mark teures Thermalbad, „das größte im Süden Europas“. Mit seinen schwefelhaltigen Becken, Sauna, türkischem Bad, Solarium, Fußmassagen für Skistiefelgeschädigte, Bädern in Pampelmusensaft und ätherischen Ölen für den Teint ködert es Skihasen und Pistenlöwen zum Après-Ski. Ein indiorömisches Bad mit Säulen wie in den Caracalla-Thermen in Rom, geschmückt mit Statuen, ähnlich den aztekischen Kunstwerken im mexikanischen Nationalmuseum, und eine Wassertheke, natürlich nur mit Säften, sind die Höhepunkte der andorranischen postmodernen Baukunst.

Delfi Roca, dem Vorsitzenden von Apapma, einer unabhängigen Umweltschutzinitiative, ist der ganze Rummel um den neuen Qualitätstourismus zuviel. „Nur in einer geschützten und sauberen Umgebung kann sich ein qualitativ hochwertiger Tourismus entwickeln“, liest er aus dem Plan vor. „Papier ist geduldig“, sagt er. Weder Dörfer noch Hotelkomplexe in Andorra verfügen über Kläranlagen. Die Abfälle werden in einer veralteten Müllverbrennungsanlage bei 400 Grad „eher getoastet als verbrannt“, kritisiert Roca. Die Reste würden an vier Plätzen auf 2.500 Meter Höhe abgekippt.

„Vom Abenteuertourismus wird mittelfristig keine Ecke unseres Gebirges verschont bleiben“, befürchtet der Umweltschützer. Drei Hochgebirgsseen an einem Tag, Hubschraubertransfer inbegriffen, ist der Schlager der Sommersaison für die Angler. Im Winter machen die Einmann-Kettenfahrzeuge, im Sommer die Trial- Motorräder die Gegend unsicher. Der Tierwelt bleibt immer weniger Rückzugsgebiet. „Staatliche Eingriffe sind verpönt, auch wenn im Strategieplan davon immer wieder die Rede ist“, sagt Roca.

Aufgrund des übertriebenen Liberalismus gibt es keinen Bebauungsplan. Die zersiedelten Täler zeugen davon. Die sechs Prozent der Fläche von Andorra, die flach genug sind, um sie als Baugelände zu nutzen, sind mittlerweile Gold wert. Nach Handflächen wird verkauft und nicht – wie sonst üblich – nach Quadratmeter. Eine Handvoll Erde bringt bis zu 1.200 Mark ein. Der Quadratmeterpreis (25 Handflächen) liegt damit gleich hinter dem von Manhattan. Weil der Staat wegen fehlender direkter Steuern eher ärmlich ist, muß er sich allerhand einfallen lassen. Deshalb werden für den Straßenbau halbe Berge weggesprengt. Immer noch billiger, als Baugelände zu kaufen.

Am liebsten sähe Umweltschützer Roca einen nachhaltigen Tourismus: „Wenn wir hier für 300.000 Personen im Jahr Kartoffeln und Fleisch produzieren können, dann können eben nicht mehr Touristen kommen. Wir können nicht alles für acht Millionen Menschen von außerhalb einführen.“ Doch in Andorra will das keiner hören. Früher mußten die Jugendlichen vor allem nach Frankreich auswandern, um Arbeit zu suchen. Anfang der sechziger Jahre hat sich die Beschäftigungssituation durch den Tourismus erheblich verbessert.

Heute hat Andorra viermal soviel Einwohner wie noch vor 30 Jahren. Arbeitslosigkeit ist ein Fremdwort. Deshalb weiß auch Roca, daß seine Ideen utopisch sind. „Aber umdenken müssen wir auf jeden Fall, denn die Natur ist unsere wichtigste Ressource.“

Infos: Andorra Touristik Delegation, Finsterwalder Str. 28, 13435 Berlin, Tel.: 4154914

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