: Rätselhafte Fälle von Schafentführung
Neues aus den Aardman-Studios: „Wallace & Gromit unter Schafen“ von Nick Park und acht weitere Filme aus der Animationshochburg Bristol ■ Von Carola Rönneburg
Über den englischen Puppenanimationsfilmer Nick Park, dessen Knetfiguren „Wallace und Gromit“ inzwischen auch hierzulande Kultstatus bei den Programmkinobesuchern erlangt haben, kursiert in Trickfilmkreisen eine Anekdote.
Nachdem die Ausstrahlung seines zweiten „Wallace und Gromit“-Films 1993 in der BBC ein Millionenpublikum vor die Fernseher gelockt hatte, war der schüchterne Regisseur endgültig zum Star geworden. Durch zahlreiche Berichte über ihn war sein Seitenscheitel Kindern und Erwachsenen bestens vertraut. Um ihn nicht völlig zu verheizen – sein dritter Film war in Arbeit und sollte schließlich auch noch gebührend von den Medien beachtet werden –, schickte das Management der „Aardman“-Studios in Bristol Nick Park in einen kleinen Zwangsurlaub; mit der Auflage, sich zu entspannen und auf gar keinen Fall noch irgendein Interview zu geben. Nick Park fuhr inkognito in einen Badeort und entspannte sich. Doch schon nach drei Tagen spielte sich in seinem Hotel ein Drama ab: Ein weiblicher, bewaffneter Hotelgast drohte mit Selbstmord bzw. Amoklauf. Die Polizei evakuierte vorsorglich alle Bewohner des Gebäudes; Nick Park fror gemeinsam mit den anderen Urlaubern vor dem Hotel.
Lange Zeit änderte sich nichts am Belagerungszustand. Schaulustige versammelten sich, Reporter fielen ein. Auf der Suche nach Augenzeugen zerrte ein Fernsehteam bald auch Nick Park vor eine Kamera. Was da los wäre, wollten die Berichterstatter wissen. „Es tut mir leid“, erklärte Nick Park, „ich gebe zur Zeit keine Interviews.“ Nach einem kurzen Moment der Verwirrung enttarnt – „Das ist Nick Park! Nick Park!“ –, mußte der wehrlose Regisseur stundenlang Autogramme geben. Im Schlafanzug.
Heute könnte Nick Park so etwas nicht mehr passieren. Mit seinem Bekanntheitsgrad geht er souverän um, Pressetermine erledigt er routiniert. Als wir anläßlich der Premiere von „A Close Shave“ im Londoner Whitewater-Hotel über seinen Film sprechen, hat er bereits ein Radio-Interview vom Bett aus geführt.
„A Close Shave“ („Unter Schafen“) ist das jüngste und letzte Abenteuer von Herrchen Wallace und Hund Gromit. Noch immer lebt das Junggesellenpaar zusammen in seinem vollautomatisierten Haushalt in einer Kleinstadt, die gewisse Ähnlichkeiten mit Bristol aufweist, und noch immer schraubt Wallace im Keller an seltsamen Erfindungen herum.
Nachdem die beiden zuletzt gegen einen als Hühnchen verkleideten Pinguin antraten, treffen sie jetzt auf einen weitaus bösartigeren Widersacher: einen gemeingefährlichen Hund namens Preston, der offensichtlich eine maßgebliche Rolle bei diversen, rätselhaften Fällen von Schafentführung spielt. Preston gehört der Besitzerin eines Wollgeschäftes, Wendolene Ramsbottom. Ist auch sie in diese Machenschaften verwickelt? Das ist eine bange Frage für Wallace, denn er hat sich in die Dame verliebt.
Wieder einmal ist es Nick Park gelungen, eine Geschichte, die durchaus für 90 Minuten gut wäre, innerhalb von einer halben Stunde zu erzählen – inklusive Romantik, Drama und Verfolgungsjagd. Im Gegensatz zu seinem letzten Stop- motion-Film waren diesmal jedoch mehrere Animatoren im Einsatz. Hatte Park bei „The Wrong Trousers“ noch widerstrebend seinem Aardman-Kollegen Steve Box die Animation des Pinguins anvertraut und es „als großes Risiko“ bezeichnet, „Steve den halben Film zu überlassen“, so hielt er sich bei „A Close Shave“ zurück. Nur wenige Szenen hat er selbst animiert. „Ich lerne, Regisseur zu werden“, stellt er fest.
Trotzdem standen die beteiligten jungen Animatoren und Filmemacher aus dem Hause „Aardman“ während der Dreharbeiten unter großem Druck, berichtet Wendoline-Animator Steve Box. Denn anders als beim Realfilm agieren Trickfilmer eben nur bedingt wie Schauspieler.
Zwar liegen Storyboards vor, und die Szenen werden auch geprobt. Doch da ein ganzer Tag vergehen kann, bis sechs Filmsekunden aufgenommen sind, überwacht der Regisseur verschiedene Drehorte. Wenn die Animatoren dann etwa damit beschäftigt sind, das freundliche Schaf „Shawn“ durch Wallace' Haus trippeln zu lassen, „fragen wir uns ständig, ob Nick das auch so machen würde“, erklärt Steve Box und schiebt eine imaginäre Puppe über den Tisch.
Beim Trickfilm geht es um winzige Details: „Würde er das Bein so weit nach vorn bewegen? Oder nur so?“ Zeit für eigene Filme bleibt da natürlich nicht: „Wallace und Gromit beherrschen das Studio.“
„In Bristol wird immer gerade ein Nick-Park-Film gedreht“, bestätigt auch Boris Kossmehl, Autor und Regisseur des „Aardman“- Films „Not without My Handbag“. Trotzdem lobt der Kurzzeitmitarbeiter von „Aardman“ die Atmospäre. „Ich habe sehr gern dort gearbeitet.“ Boris Kossmehl, aufgewachsen in München, gehört zu den großen Talenten der Animationsfilmszene. Ursprünglich mit Realfilm befaßt, wandte sich der 32jährige in der Londoner Emigration dem Trickfilm zu. Für einen kleinen Pilotfilm zu „Not without My Handbag“ erhielt er ein Arbeitsstipendium von „Channel 4“. Die Fernsehstation zählt neben „Canal+“ und „arte“ in Frankreich sowie „premiere“ in Deutschland zu den wenigen Sendern, die kurze Animationsfilme in ihren Programmen zeigen.
„Channel 4“ steckte Boris Kossmehl in ein „Gläsernes Studio“. Dort bastelte er drei Monate in aller Öffentlichkeit an seinem Film. Ein bißchen seltsam sei das zuerst gewesen, erinnert er sich. „Da kommen dann Leute herein, gucken sich um und stellen Fragen, während man sich konzentrieren möchte.“ Viel schlimmer sei allerdings die Geräuschkulisse gewesen. „Auf mehreren Monitoren liefen Bugs-Bunny-Filme in einer Schleife, und ich hatte alle fünf Minuten dieselben Geräusche im Ohr.“
Boris Kossmehls Durchhaltevermögen wurde jedoch belohnt. „Channel 4“ finanzierte seinen Film, den Boris Kossmehl dann in den „Aardman“-Studios fertigstellte. Hier war man von seiner Idee sehr angetan, obwohl „Not without My Handbag“ eigentlich aus zwei Filmplänen zusammengestellt ist, wie Boris Kossmehl erzählt. Die Geschichte einer Frau, die wegen Überschreitung einer Zahlungsfrist vertraglich in die Hölle geschickt wird, aber wieder unter die Lebenden geht, weil sie ihre Handtasche vergessen hat, geht auf eine Zeichnung Kossmehls zurück.
„Ich dachte dabei an den mexikanischen Horrorfilm „Day of the Dead‘“, gibt der Filmemacher seine Einflüsse preis, „aber vor allem interessierte mich die Frage, was wohl passieren würde, wenn eine nervige Verwandte auch als Untote noch unterwegs ist.“ Und kurz darauf – „Tanten tragen immer Handtaschen“ – begann Boris Kossmehl, sich intensiv mit der Vorstellung von einer gefräßigen Handtasche mit Clipverschluß und Schulterriemen zu beschäftigen. „Handtaschen“, erklärt er seine Obsession, „haben für Männer ja auch etwas Mysteriöses.“
Für den Kinobesucher ist es ein großes Glück, daß Boris Kossmehl sich dem Handtaschenstudium widmete. Sein Puderdosentransportmittel ist nämlich leicht kariert, tückisch und küchensüchtig – also folgerichtig vom Teufel besessen. Darüber hinaus bewegt sich die Handtasche in einem herrlich skurrilen Szenario: Boris Kossmehl läßt seine Charaktere vor knallblauem, perspektivisch völlig verzerrtem Hintergrund über runde Böden laufen. Zusätzlich filmte er das Handtaschendrama durch eine weite Linse: „Das gibt den Figuren etwas sehr schön Verlorenes“, findet er.
Daß sein Film nun zusammen mit Wallace und Gromit sowie zwei Filmen des Aardman-Studiogründers Peter Lord in einer Animationsfilmrolle in die Kinos kommt, freut ihn. Die Sache hat aber auch einen Haken: „Ich sehe natürlich jede Menge Fehler, die ich gemacht habe. Nach einer anfänglichen Begeisterung ist für mich der letzte Film immer der schlechteste. Was mich vorantreibt, ist der Wunsch, etwas Besseres zu machen. Und überhaupt: Ich möchte unbedingt einen neuen Film machen.“
Der Plan steht bereits – vage Andeutungen über ein Insektenszenario, eine Bienenkönigin, die Psychiaterin werden möchte, und eine Drohne, die als Tunte auftreten soll, lassen den Wunsch aufkommen, Boris Kossmehl möge zu „Aardman“ zurückkehren.
Und auch Nick Park beschäftigt sich schon wieder mit einem neuen Filmprojekt. Er betont zwar immer wieder gern, er betrachte Wallace und Gromit als seine Kinder. „Aber ich habe jetzt seit zwölf Jahren mit ihnen zu tun“, sagt er. „Ich möchte mal etwas anderes machen.“ Eine Gelegenheit hat der zweifache Oscarpreisträger, inszwischen zum dritten Mal nominiert, schon ausgeschlagen: die Möglichkeit, bei Disney einen Langfilm zu machen. Zur Zeit bemühen sich viele Hollywood-Studios, europäische Animationsfilmer unter Vertrag zu nehmen. Die Trickexperten sind jedoch skeptisch. „Disney ist vor allem zu groß. Ich hätte Angst, die Kontrolle über meinen Film zu verlieren“, sagt Nick Park. Ohnehin habe es ihn eine Ewigkeit gekostet, sich an Teamarbeit zu gewöhnen. Schließlich hatte er seinen Erstling noch ganz allein fertiggestellt, in insgesamt sechs Jahren.
Bis Hollywood nach Boris Kossmehl ruft, wird sicherlich noch Zeit vergehen. Aber es könnte immerhin sein. Und möglicherweise wird seine Antwort ähnlich lauten. Nach Co-Animatoren befragt, meint er: „Ich arbeite gern mit anderen Leuten zusammen. Aber am Ende sage ich dann doch: Und jetzt laß mich mal.“
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