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Vertuschen mit Statistik

Mediziner rechnen Tschernobyl harmlos – vor Ort immer mehr Kranke  ■ Von Reiner Metzger

Die Strahlendosis für die Bevölkerung um Tschernobyl ist derzeit zehn- bis fünfzigmal so hoch wie die natürliche Strahlung. „So unerfreulich hoch solche Strahlenexpositionen sind, lassen sie doch – mit der möglichen Ausnahme kindlicher Leukämien – keine statistisch faßbaren Erhöhungen der Krebsrate oder auch der Erbschäden oder Mißbildungsraten erwarten“, sagte Albrecht Kellerer in einem Vortrag vor Reaktorexperten und Strahlenmedizinern Ende Februar in Bonn. Herr Kellerer ist Strahlenbiologe an der Uni München und am gsf- Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, wie die Gesellschaft für Strahlenforschung heute heißt.

Seine Daten zieht Kellerer aus dem ukrainischen Krebsregister und dem Leukämieregister im weißrussischen Minsk – hochoffiziellen Instituten, die schon zu sowjetischen Zeiten Daten sammelten und verwahrten. Seine Ergebnisse entsprechen seinen Erwartungen: Die Krebsraten, also die Zahl der Krebskranken auf hunderttausend Einwohner, sind zwar laut amtlichen Zahlen von 1985 bis 1995 um 15 Prozent gestiegen, jedoch in allen Regionen der Ukraine, nicht nur in den hochbelasteten, und nach Tschernobyl keineswegs stärker als vorher. Keine statistischen Ausreißer nach oben, auch nicht bei der Leukämie. Ähnlich sieht es nach den Rechnungen von Kellerer im zu einem Drittel verstrahlten Weißrußland aus. Die Leukämierate liegt mit vier bis fünf Fällen pro hunderttausend Einwohnern und pro Jahr so hoch wie in Deutschland.

Seltsam nur, daß die sorgsam ausgewerteten Statistiken nicht mit der Beobachtung vor Ort zusammenpassen. „Aber ja doch“, schnaubte schon im Frühjar 1994 eine Hebamme aus dem vom Fall out nicht so stark betroffenen Südwesten der Ukraine: „In meiner Poliklinik haben wir jetzt mehr totgeborene oder mißgebildete Kinder als früher.“

„Nach Tschernobyl wird vermehrt auf Krankheiten geachtet, die eine Folge des Reaktorunfalls sein könnten“, haben Kellerer und auch einige seiner Strahlenforscher-Kollegen aus den betroffenen Republiken als Erklärung parat. Einen Anstieg auch aller möglichen anderen Krankheiten unter den betroffenen Millionen Menschen bestreitet niemand. Manche Mediziner, darunter auch die weniger atomkritischen, führen das jedoch auf „Sekundärfolgen“ von Tschernobyl zurück: die geringere Versorgung mit Vitaminen, weil die eigenen Gärten für die Versorgung ausfallen, und die allgemein gewachsene Armut.

Eine reichlich zynische Antwort angesichts neuerer Zahlen über den wahren Gesundheitszustand der Menschen in Weißrußland und der Ukraine. Denn abgesehen von den Krebsraten steigen die allgemeinen Krankheitsraten nach der Reaktorkatastrophe lawinenartig. Im stark belasteten Gebiet von Gomel, direkt nördlich von Tschernobyl, zum Beispiel litten 1987 von 100.000 Kindern 3,7 unter Störungen des Immunsystems, 1995 waren es 3.550 – glaubt man der statistischen Abteilung der Gebietskrankenhäuser des Rayons. Die hat zum zehnten Jahrestag der Katastrophe die Zahlen ihrer behandelnden Ärzte zusammengefaßt.

Tumoren, Mißbildungen bei Neugeborenen, innere Krankheiten: sie stiegen und stiegen in den letzten Jahren. Mal um das Vierfache, mal um den Faktor hundert. Alles eine Frage der mangelnden Vitaminversorgung? Hauterkrankungen stiegen von 160 auf 5.700, Krankheiten der Atemwege von 760 auf 81.300 – nur weil die Statistiken besser sind?

Ähnliche Zahlen finden sich für die Ukraine. Allerdings nur bis zum Jahr 1992, weil nach einem Erlaß des Präsidenten neuere Zahlen unter Verschluß bleiben. Schließlich leidet die heimische Industrie im Ausland unter solch einem schlechten Image, und die Atomlobby kommt im eigenen Land in Erklärungsnot. Also Schwamm drüber über die Krankheiten der kleinen Leute.

Krampfhaft suchen die Verharmloser der Kernkraft und ihrer Auswirkungen nach anderen Erklärungen. Als Argument muß der Streß herhalten. Nicht etwa der Streß des Körpers durch eine strahlende Umwelt, sondern der Psychostreß durch Umsiedlungen. Und die durch die zuerst alles vertuschende sowjetische Regierung und die hysterischen Medien fahrlässig verursachte Angst. „Dieses Informationschaos ist eine der schlimmsten Folgen des Unfalls“, trägt Albrecht Kellerer allen Ernstes mit gefurchter Stirn den Reaktorexperten in Bonn vor.

Natürlich zerrt die Ungewißheit an den Nerven der Leute. Und Regierungsstellen, die jahrelang „alles unter Kontrolle“ brabbelten, glaubt niemand mehr irgendwas. Auch leben viele weiterhin vom verseuchten Boden, weil sie woanders keine lebenswürdigen Unterkünfte finden. Aber allein aufgrund von Angst können Krankheitsraten nicht derart ansteigen wie im Westen Rußlands, der Ukraine und Weißrußland. Dafür gibt es viele Beispiele aus Krisenregionen.

Auch die deutschen statistischen Jahrbücher zeigen für die doch wahrlich umwälzenden und harten vierziger Jahre wenn überhaupt höchstens kleine Hügel bei verschiedenen Todesarten. Die Selbstmordrate sank. Laut dem Tschernobyl-Ministerium der Ukraine stieg die Zahl der psychisch Erkrankten unter jeweils 100.000 Betroffenen von 1987 bis 1992 von 249 auf 13.145, die Zahl der Selbstmorde vor allem unter den vielen Helfern, die während der ersten Wochen direkt am Reaktor gearbeitet haben, schießt nach oben wie die heiße Strahlenwolke am 26. April 1986 über dem Unglücksreaktor.

Die Atomindustrie kann darin keine Indizien für Strahlenwirkungen sehen. Sie will zeigen: Wenn die Strahlung schon auf die Region um Tschernobyl keine großen Auswirkungen hatte, um wieviel weniger gefährlich sind dann die sicheren Blöcke in Westeuropa. Schreibtischtäter, findet sie immer noch.

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