Majestätische Warengebirge

Einkaufen ist die beliebteste Freizeitbetätigung der Deutschen. Jede soziale Schicht hat ihr eigenes Kaufrevier abgesteckt: die Ladengalerie für die Kaufkräftigen und der Fabrikreste-Ramschier für die Sozialhilfeempfänger, der Duty-free-Shop für die Weltenbummler und das Teleshopping für die abgekochten Couch Potatoes, das Hanflädchen für die Ökofraktion und der Tankstellenshop für die Generation GTX  ■ Von der Einkaufspiste berichtet unser Konsumtrend-Chronist Rüdiger Kind

Wehmütig denken wir zurück an die bescheidenen Vergnügungen unserer Altvordern – den Schaufensterbummel durch die mit flackernden Gaslaternen nur notdürftig beleuchteten Boulevards, Kinder, die sich an den Scheiben die Nase platt drückten angesichts der unerreichbaren Wunderdinge, und Damen, die sehnsuchtsvoll die neuesten Kreationen weltberühmter Modeschöpfer bestaunten, von kunstfertigen Schauwerbegestaltern in den Auslagen der Einzelhandelsfachgeschäfte arrangiert. Jedes Schaufenster eine andere Welt, in die imaginativ einzutauchen die ganze Familie entzückte.

Heute, in den Zeiten entfesselten Konsumterrors, werden die überzuckerten Kindheitserinnerungen brutale Realität: Alle Wünsche werden wahr. Kauf mich! schreit es aus allen Lautsprechern, und die werbungsgeschwängerte Luft unserer konsumtempelgesäumten Fußgängerzonen erzittert vom Getrampel sonderangebotshöriger Hausfrauen. Alles muß raus! Überquellende Lager müssen geräumt, Platz muß geschaffen werden für die neuen Kollektionen – zweimal im Jahr hält Schlußverkaufspanik das Land im Würgegriff.

Die Ekstase des kleinen Mannes

Was Wunder, wenn heute der Erwerb einer Ware, weil jederzeit möglich, zur Nebensache geworden, der Akt des Kaufens hingegen selbst zum Zweck geworden ist? Einkaufen gehen ist die beliebteste Freizeitbeschäftigung der Deutschen. Der Kaufrausch wurde zur alle Widrigkeiten des Alltags überzuckernden Ekstase des kleinen Mannes. Die Überflußgesellschaft bietet jeder sozialen Schicht ihre kohortenspezifischen Einkaufsgelegenheiten: von der Ladengalerie mit ihren Luxusboutiquen für die kaufkräftige Kundschaft bis zum Fabrikreste-Ramsch für den Sozialhilfeempfänger, vom Duty- free-Shop für den Weltenbummler bis zum Teleshopping für abgekochte Couch Potatoes, vom Hanfladen für die Ökofraktion bis zum Tankstellenshop für die Generation GTX...

Werfen wir einen Blick ins Einkaufsnetz der konsumgestützten Freizeitangebote – event consuming at its best:

Cash & Carry Crazy

Was dem aufstrebenden Jungunternehmer seine „goldene Kreditkarte“, ist dem kleinen Angestellten der Einkaufsausweis für den Großmarkt. Eintrittskarte in die Welt des privilegierten Einkaufs. Was Bergfreaks der Gipfelrundblick, ist Großmarktgängern das grandiose Palettenpanorama auf majestätische Warengebirge in der Sauerkonservenstraße oder die vorösterliche Schokohasenarmee im Kassenbereich.

Für sportliche Großmarktbesucher ist das Schieben und Ziehen der tonnenschweren Einkaufswagen ein wilkommenes working out.

Mitbürger, die nicht im Besitz eines Einkaufsausweises sind, kommen zur Not auch im Baumarkt auf ihre Kosten. Diese Non- food- Tempel des kleinen Mannes sind nicht zuletzt deswegen so beliebt, weil sich zwischen Rigips-Feuchtraumplatten und Dämmekeilstapeln trefflich mit dem Nachbarn über den Wirkungsgrad von Pendelhubfuchsschwänzen oder Neuentwicklungen auf dem Laubsaugersektor philosophieren läßt. Fazit: Großmärkte sind ein kommunikatives Einkaufszentrum für preisbewußte Liebhaber von Großgebinden.

Event-Consuming auf vier Etagen

Kaufhäuser sind die Schlachtschiffe im Meer des Einzelhandels. Doch neben unschlagbarer Sortimentsvielfalt bieten die mehrgeschossigen Konsumtempel auch phantastische Erlebniswelten für ambitionierte Indoor-Sportler. Hier ist für jeden Geschmack etwas geboten – archaischer Herdentrieb wird ebenso bedient wie sportiver Extremindividualismus: Ob gnadenlose Schnäppchenjagd, Liftfahren oder stundenlanges Rolltrepping, nirgends sonst bieten sich so viele Möglichkeiten zum Extremsport unter einem Dach.

Der irrgünstige Charme der Havarie

Saisonunabhängige Schnäppchenjagd der bizarren Art bieten die wie Pilze aus dem Boden schießenden Fabrikreste-Verramscher, in deren Minipreis-Wunderwelt der spaßorientierte Genußkonsument voll auf seine Kosten kommt.

Bei den modernen Nachfolgern des billigen Jakob lassen sich oftmals ungeahnte Funde machen: Pelzmützen aus NVA-Beständen, vergilbte Plastikschüsseln aus russischen Kombinaten, Schuhrestposten aus Geschäftsaufgaben und Havarienware geben sich ein Stelldichein zu babylonischer Warenverwirrung. Wichtiger aber ist der ebenso bunt zusammengewürfelten Klientel die Tatsache, daß nirgendwo sonst für so wenig Geld Waren erstanden werden können, die garantiert niemand braucht.

Totaler No-name-Fun

Kenner der urbanen Einkaufsszene zieht es nicht nur der Dauertiefpreise wegen zu Aldi, Norma & Co. Die Discounter bilden mit ihrem Paletten-Charme so etwas wie letzte Bastionen von ungeschminktem Einkaufsrealismus. Das real life feeling wird wirkungsvoll unterstrichen von den sich regelmäßig vor den notorisch unterbesetzten Kassen bildenden Schlangen, in denen sich Studenten, Asylbewerber, Angehörige der Leichtlohngruppen und Sozialhilfeempfänger die Füße in den Bauch stehen. Fazit: Hier ist Multikulti keine hohle Phrase, sondern praktizierte Einkaufsgemeinschaft, und die offene Gesellschaft keine Mogelpackung.

Angesichts stetig steigender Obdachlosenzahlen diagnostizierten die Freizeitberater des deutschen Einzelhandelsverbandes eine Systemkrise: „80 Prozent der Arbeits- und Obdachlosen kranken an akutem Ideenmangel bei der Einkaufsgestaltung.“ Ziele und Visionen seien in den Wärmestuben der Bahnhofsmissionen nur selten anzutreffen. Kreativer Umgang mit eingeschränkten Konsummöglichkeiten würde von den Betroffenen viel zuwenig praktiziert. Die Schelte scheint zu wirken, inzwischen setzt sich bei den Experten die Erkenntnis durch, daß event consuming gerade auch von den am Rande unserer Gesellschaft Stehenden immer wieder neu definiert wird. Als Beispiel für den neuesten Trend mag die zunehmende Durchstöberung der öffentlichen Abfallkörbe gelten...

Garbage- can-hopping

Diese Einholform hat das Zeug zum ultimativen Konsumtrip der Neunziger. Crazy Streetwalker versorgen sich zunehmend aus den überquellenden Abfalleimern der Großstädte. Die modernen Großstadtjäger und -sammler versorgen sich dort mit Lesestoff für den ganzen Tag. Und wer sich rasch einen Bissen für den kleinen Hunger zwischendurch einschieben will, wird in der Nähe der Hamburgerstationen fündig. Ein Rest Fritten mit Ketchup ist allemal „im Eimer“ und schmeckt auch nicht viel schlechter als friteusenfrische Ware.

Fazit: garbage-can-hopping ist der Konsumtrend für Outdoor- Fanatiker mit Hang zur Zahlungsverweigerung.