Rußlands Armee zwischen Reform und Pleite

Die Versorgungsengpässe der russischen Armee treffen immer die untersten Ränge – und nach wie vor herrscht die Philosophie, durch Menschen aufzuwiegen, was der Armee an Planung und moderner Technologie fehlt  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Tagelang warteten die Spezialeinheiten in Perwomaiskoje auf den Befehl, dem tschetschenischen Geiseldrama ein Ende zu setzen. Draußen klirrte kaukasischer Frost, als Unterkunft dienten den Soldaten ungeheizte Busse. Um die Lebensmittelversorgung hatten sie sich selbst zu kümmern, in der Eile der Planung hatte die Führung diesen Posten vergessen. Und so suchten die Soldaten in den umliegenden Dörfern nach Eßbarem. „Herr Oberkommandierender“, wandte sich die Zeitung Komsomolskaja Prawda dieser Tage an Rußlands Präsidenten Boris Jelzin, „die Angehörigen der russischen Armee träumen wie eh und je vom Essen!“

Nach einer Anweisung des Verteidigungsministeriums stehen einem Gemeinen täglich neben 350 dunklem und 400 Gramm Weißbrot noch 200 Gramm Fleisch und verschiedene Grütz- und Makkaronisorten zu. Ja, sogar Fleisch, Speck und mehr als ein Pfund Kartoffeln pro Mann sind vorgesehen. Selbst Kondensmilch fehlt nicht – auf dem Papier.

Die Realität sieht anders aus. Außerhalb der Kasernen betteln armselige Wehrdienstler um Geld. In Tschetschenien waren die einfachen Dienstgrade häufig auf die Mildtätigkeit der bekriegten Bevölkerung angewiesen.

Und so ist auch die schlechte Versorgung ein Grund für die ständigen Pleiten und Blamagen der Armee im Kaukasus. Ein Soldat, der beim Verhökern seines Maschinengewehres an den Feind erwischt wurde, wurde lediglich in die Heimat versetzt, damit hatte sich die Sache. Eine Truppe, die unter höchsten Anspannungen tagelang auf sich gestellt ist, friert und hungert, kann keine Kampfmoral entwickeln. Kein Armeelaborant verwandelt Patriotismus in Glykose.

Für Generalleutnant Wjatscheslaw Sawinow, der die Nachschubabteilung des Verteidigungsministeriums leitet, ist klar, wer die Schuld an dem Dilemma trägt: das Finanzministerium, das im Januar nur ein Fünftel der notwendigen Gelder bereitstellte und im Dezember nicht einen Rubel für die Verpflegung rausgerückt hatte. Demnach schuldet die Armee ihren Zulieferern schon mehr als eine Trillion Rubel (288 Millionen Mark). „Wir überleben noch, weil wir unsere eisernen Reserven auffuttern“, klagt Sawinow.

Im Fernen Osten haben die Brotfabriken gedroht, ihre Lieferungen einzustellen. In Grosny steht die Armee bei den Brotherstellern mit zwei Milliarden Rubel in der Kreide. Über eine Trillion Rubel Bringschuld der Armee wurden einfach nicht in den Haushalt für 1996 einbezogen. Dem russischen Staat fehlt Geld an allen Ecken und Enden. Aber die Misere der russischen Armee ist nicht nur mit dem schmalen Budget und fehlenden Mitteln zu erklären.

Desorganisation und Gedankenlosigkeit tragen ihren Teil zur Misere bei, ebenso wie Korruption in den eigenen Reihen. Nach Informationen des Wochenblatts Moskowskije Nowosti überwiesen etwa die Chefs der Handelsabteilung aus Geldern der ehemals in Deutschland stationierten Westgruppe 30 Millionen Mark an die Firma „Plada“ – für Lebensmittel. Weder Fristen noch Preise der Waren waren mit dem Oberkommando abgestimmt, und erst beim Nachrechnen stellte sich heraus, daß für Kaffee, Milch, Kakao, Fleischkonserven und Süßigkeiten doppelt soviel bezahlt worden war, wie die Waren in Moskauer Einzelhandelsgeschäften gekostet hätten.

Das ist kein Einzelfall, und so zeigt der ehemalige Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, Sergej Juschenkow, wenig Verständnis für die Klagen der Militärs. Wenn die Armee ihre Bücher nicht öffne, sagte Juschenkow in der Debatte um den 96er Militärhaushalt, könne sie auch nicht mit höheren Zuwendungen rechnen.

Und das Ansehen der Armee sinkt weiter. Bei Kommunalwahlen im Herbst in Wolgograd, dem einstigen Stalingrad und Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, stellte die Armee in allen 24 Wahlkreisen einen Stadtratskandidaten auf. Keinem einzigen gelang der Sprung in die Stadtvertretung. Die Zeiten, in denen die Armee unkritisch glorifiziert wurde und dem sowjetischen Hang zur Überhöhung alles Martialischen gefrönt wurde, sind vorbei.

Eine armeeinterne Studie prangerte jüngst einen „präzedenzlosen Sittenverfall“ in den bewaffneten Organen an. Daß das nun tatsächlich so neu ist, darf bezweifelt werden – nachzuprüfen ist es nicht. Denn die Existenz und Veröffentlichung einer solchen Studie wäre zu Zeiten der Roten Armee undenkbar gewesen.

Die häufigsten Verstöße gegen die Dienstordnung sind der Studie zufolge auf „exzessiven Alkoholkonsum“ zurückzuführen. Unentschuldigtes Fernbleiben, Verspätungen, Beleidigungen und schikanöse Behandlungen sind mittlerweile im Offizierskorps an der Tagesordnung. Selbst im zentralen Apparat des Verteidigungsministeriums werde während der Dienstzeit gesoffen, heißt es.

Die Studie brachte auch ein ganz anderes Problem auf die Tagesordnung: Die Offiziere isolieren sich, schenken den Problemen der Untergebenen keine Aufmerksamkeit, nur die Schikane bleibt. Im Gegenzug entziehen die Soldaten den Kommandeuren das Vertrauen, ein Mißstand, der die Autorität der Vorgesetzten untergräbt: Befehle werden offen ignoriert oder einfach unterlaufen – ein Desaster für jede Armee.

Alle Wehrdienstleistenden, die während der Studie befragt wurden, gaben an, Opfer gezielter Bosheiten ihrer Vorgesetzten geworden zu sein. Nur jeder Zehnte hatte Gelegenheit, dergleichen auf Dienstversammlungen zur Sprache zu bringen.

Der russische Rekrut bleibt jener Willkür ausgesetzt, die schon zu Zeiten der Perestroika die Soldatenmütter auf den Plan rief. Die „Dedowschtschina“, die körperliche Züchtigung und Erniedrigung der frischen Rekruten durch Dienstältere, wurde damals zum erstenmal öffentlich angeprangert. Hunderte von jungen Wehrpflichtigen trieb die unvorstellbare Grausamkeit jährlich in den Selbstmord, ohne daß die Vorgesetzten eingeschritten wären. Offenkundig zählt Brutalität zum Trainingsprogramm. Bis heute hat sich in den Kasernen daran nichts geändert.

Hunderte von Müttern durchstreifen die Schlachtfelder im Kaukasus, fahren von Leichenhalle zu Leichenhalle, um wenigstens die sterblichen Überreste ihrer Söhne nach Hause zu überführen. Sie stoßen auf eine gleichgültige, kaltherzige Militärbürokratie, die den einfachen Soldaten erst im letzten Jahr wenigstens mit einer Erkennungsmarke versah. Unzählige Gefallene können bis heute nicht identifiziert werden.

Immer wieder zeigt sich im Kaukasus, wie wenig der Armeeführung am Schicksal der Kämpfer gelegen ist: Söldner erhalten kein Geld, obwohl zugesichert war, ihre Familien würden ausbezahlt. In den Dreimonatsverträgen, die sie unterschrieben hatten, stand kein Betrag, lediglich ein Vermerk: Auszahlung „auf Grundlage des Gesetzes“. Zahlungen gingen nicht ein.

Wollten Söldner – „Kontraktniki“ – ihren Dienst nach abgelaufener Frist quittieren, zwang man sie, den Vertrag selbst zu annullieren. Jeglicher Anspruch entfiel. „Wer nicht unterschreibt, wird in Tschetschenien sitzen und verrotten, bis er abkratzt“, soll Brigadekommandeur Muchin angeordnet haben.

„Wie hungrige Ratten“, berichten Tschetschenien-Rückkehrer, seien sie herumgestreift, dreckig und stinkend, auf der Suche nach Essen, während Offiziere mit Einheimischen gehandelt und getrunken hätten. „Was uns die Kommandeure angetan haben, kann kein Geld der Welt wiedergutmachen“, so ein Kontraktnik.

Dabei ist die Kritik an der mangelnden Fürsorge für die eigenen Soldaten nicht neu. Allerdings haben Historiker, die 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg darauf verweisen, mit welchen riesigen und oft bewußt kalkulierten Verlusten Siege über Hitler-Deutschland errungen wurden, bis heute einen schweren Stand. Die Erkenntnis, daß mangelnde Technik und stümperhafte Planung durch Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschenleben wettgemacht werden mußte, soll nach Möglichkeit nicht die Kreise von Historikern und Experten verlassen. Auch die politische Führung möchte am Mythos der Unbezwingbarkeit festhalten – je deutlicher die außenpolitische Schwäche wird, desto mehr. Aber ohne Reform kann aus der Armee keine schlagkräftige moderne Streitkraft werden.

Das Bosnienkontingent offenbarte die Mängel allzu deutlich. Ursprünglich wollte Moskau 20.000 Soldaten stellen. Als aber bekannt wurde, daß jeder Staat für seine eigenen Leute aufzukommen habe, begnügte sich der Kreml mit 1.500. Bis kurz vor Abreise hatten die meisten noch nicht einmal eine einheitliche Ausrüstung beisammen, ganz zu schweigen vom musealen Fuhrpark.

Liberale Kräfte fordern seit Jahren eine Armeereform. Um sie in Angriff zu nehmen, wären zunächst mehr Mittel erforderlich als ein Jahresbudget. Doch dafür hätte Rußland in absehbarer Zeit Truppen, die neuen Erfordernissen gewachsen wären, also in der Lage wären, auf ethnische Konflikte und terroristische Anschläge gezielt zu reagieren und blutige Dramen wie im Tschetschenienkrieg zu vermeiden.

Die Liberalen plädieren für eine Berufsarmee, beißen damit aber beim militärisch-industriellen Komplex auf Granit. Der hat an einer längerfristigen Kostenreduzierung kein Interesse. Die häufige Begründung, den Soldaten drohe die Arbeitslosigkeit, verfängt nicht: 60 Prozent aller ausgedienter Militärs fanden Arbeit bei Sicherheitsdiensten und Wachgesellschaften, und allein in Moskau werden 200.000 offene Stellen gemeldet.

Mindestens 3 Millionen Menschen stehen in Rußland unter Waffen. 1,7 Millionen dienen in der Armee, die übrigen in den Organen des Innenministeriums, der Spionageabwehr und bei den Grenztruppen. In anderen Ländern gilt die Faustregel, die Armee solle etwa ein Prozent der Bevölkerung umfassen. 1,5 Millionen wären das in Rußland, und diese Zahl steht auch in der Diskussion um die Armeereform.

Die Militärs freilich argumentieren, die langen Grenzen des dünnbesiedelten Landes ließen das nicht zu, die Generalität verlangte vielmehr noch eine Aufstockung. Weil sich vor dem Wehrdienst drückt, wer irgend kann, sei nicht einmal der normale Bedarf gedeckt.

Das russische Parlament reagierte: Nachträglich verlängerte die Duma die Wehrdienstzeit auf zwei Jahre, die jungen Soldaten blieben in den Kasernen. Rechtsstaat à la Russie. Billige Arbeitskräfte in Friedenszeiten, Kanonenfutter im Krieg, Qualifikation nur hinderlich.

Im Kampf um die Präsidentschaft hat Boris Jelzin die Armeereform wieder auf die Tagesordnung gehoben, seinem Verteidigungsminister Pawel Gratschow warf er Untätigkeit und Augenwischerei vor. Allerdings ließ er offen, in welche Richtung sich die Änderungen bewegen sollen. Wahlkampf oder ernstes Anliegen? Die Generäle wollen von der Reform nichts wissen – sie begreifen nicht, daß sich heute nicht mehr Weltmacht nennen kann, wer über ein riesiges Heerlager gebietet, in dem Sklaverei und Hunger herrschen. Im Wahljahr aber wird sich Jelzin die Armee nicht zum Gegner machen.