■ Die Selbstmordattentate von Hamas sind ausdrücklich zu verurteilen, und sie führen zu nichts: „Israel lieferte den Vorwand“
taz: Haben Sie nach dem letzten Attentat der islamistischen Hamas-Bewegung in Tel Aviv persönlich befürchtet, daß Israel eine Militäraktion in den autonomen Gebieten unternehmen könnte?
Haider Abdel Schafi: Ich habe das als eine ernsthafte Möglichkeit in Betracht gezogen. Das Oslo- Abkommen schließt eine solche Aktion nicht aus. Und ich sehe nicht, daß Israel so etwas unbedingt vermeiden will. Es ist immer noch möglich. Heute haben sie vor Gaza das Meer blockiert. Die Fischer dürfen nicht hinausfahren.
Die israelische Regierung wirft Jassir Arafat vor, nicht genug gegen den Terrorismus unternommen zu haben. Teilen Sie diese Ansicht?
Nein. Arafat hat mehr als genug getan. Hamas hat wie jede andere politische Organisation prinzipiell das Recht, in der palästinensischen Arena zu agieren. Überdies haben die Palästinenser das verbriefte Recht, mit allen Mitteln gegen die Besatzung zu kämpfen, einschließlich des militärischen Kampfes. Damit heiße ich nicht jene Art von Aktionen gut, die Hamas mit den Selbstmordattentaten verübt hat. Ich verurteile sie ausdrücklich. Aber Arafat hatte ein Abkommen mit Hamas getroffen: keine gewalttätigen Operationen mehr vom autonomen Gebiet aus gegen Israel. Über acht oder neun Monate war alles ruhig, bis Israel Fathi Schiqaqi (den Chef des Islamischen Dschihad, d. Red.) und Jahja Ajasch (den Bombenbauer des bewaffneten Hamas-Flügels, d. Red.) tötete. Israel trägt die Verantwortung, denn Israel hat Hamas den Anlaß für diese Aktion geliefert.
Die israelische Regierung sagt jetzt, sie habe keine andere Möglichkeit, ihre Bevölkerung zu schützen, als dadurch, daß sie die autonomen palästinensischen Gebiete abriegelt.
Israel hat sich viele Vergehen gegen seine gesetzlichen Verpflichtungen zuschulden kommen lassen. Als Besatzungsmacht muß Israel dafür Sorge tragen, daß die Bevölkerung in den besetzten Gebieten ein Auskommen findet. Andernfalls sollte eine Besatzungsmacht ihre Besatzung beenden. Jetzt aber kann Israel seine Besatzung fortsetzen und der Bevölkerung die Möglichkeit nehmen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das ist eine flagrante Verletzung des Völkerrechts, und das unter den Augen der demokratischen Welt. Wozu sind die Israelis hier? Sie könnten abziehen und die Grenze abriegeln. Aber weiterhin Besatzungsmacht spielen und den Gaza-Streifen abriegeln verstößt gegen das Völkerrecht.
Aber der internationale Druck lastet jetzt auf den Schultern der Palästinenser und ihren Selbstverwaltungsorganen. Von ihnen wird erwartet, daß sie etwas gegen den Hamas-Terror unternehmen.
Ich scheue mich nicht, die Taten von Hamas zu verurteilen. Ich glaube, sie sind unmenschlich, sie sind kontraproduktiv. Ich verurteile sie genauso, wie Arafat sie verurteilt hat. Aber Arafat kritisiert diese Attentate, weil sie zum Ziel hätten, den Friedensprozeß zu zerstören. Das ist eine Irreführung von seiten Arafats, denn der Friedensprozeß ist schon zerstört, und zwar von israelischer Seite.
Wir sollten die Attentate von Hamas verurteilen und mit derselben Logik und demselben Nachdruck sagen, daß Israel den Friedensprozeß zerstört hat, weil es sich hartnäckig weigert, das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anzuerkennen.
Wie beurteilen Sie das aktuelle Vorgehen der palästinensischen Behörden gegen Hamas?
Es ist furchtbar, unglaublich. Ich verurteile es nachdrücklich. Ich räume ein, daß die Behörden Recht und Ordnung aufrechterhalten müssen, aber es gibt keine Rechtfertigung für all die Verletzungen der Gesetze und der Menschenrechte.
Ajasch ist ein Volksheld hier in Gaza. Glauben Sie, daß Hamas immer noch eine große Unterstützung hat?
Die Menschen leiden hier. Israel hat die Hamas-Attentate zum Anlaß für die Absperrung genommen. Die Menschen sind sicher kritisch gegenüber Hamas. Aber die Leute wissen auch, daß der Friedensprozeß jede Glaubwürdigkeit verloren hat.
Warum ist das geschehen?
Der Bezugsrahmen des Friedensprozesses ist die UNO-Resolution 242 aus dem Jahre 1967. Danach ist die Aneignung von Territorien durch Gewalt verboten. Und die Grundregeln des Oslo- Abkommens besagen, daß keine Partei irgend etwas unternehmen darf, was dem Ergebnis der Verhandlungen über den endgültigen Status vorgreift. Deshalb sind übrigens die Verhandlungen in Washington in eine Sackgasse geraten. Israel hat diese Grundregeln beständig verletzt. Es kontrolliert immer noch Territorien im Gaza- Streifen, in der Westbank und in Jerusalem, die es mit Gewalt erobert hat. Israel hat sogar seine Siedlungstätigkeit intensiviert.
Sie kritisieren also das Abkommen von Oslo und die palästinensische Führung?
Absolut. Ich habe immer gesagt, daß dies ein schlechtes Abkommen ist. Ich habe mich von diesem Abkommen distanziert, bin aber mit Arafat und den Behörden in Kontakt geblieben. Ich habe Arafat immer geraten, die Verhandlungen auszusetzen. Schon aus dem einen Grund, daß die Welt nicht in der Illusion leben sollte, es gäbe einen glaubwürdigen Friedensprozeß. Und auch, damit die Weltöffentlichkeit später nicht ankommt und sagt: Aber warum habt ihr uns das nicht gesagt?
Die Palästinenser besitzen keine militärische Macht mehr, bestenfalls noch eine moralische. Die arabische Welt will nichts mehr von ihnen wissen. Und die internationale Gemeinschaft sagt: „Macht das mit den Israelis aus.“
Das trifft genau zu. Israel ist hier wegen seiner militärischen Stärke und der Verletzung des Völkerrechts. Wir haben nicht die Macht, Israel zum Abzug zu zwingen. Und wir wissen, daß die demokratische Welt nichts tut. Ja, sie unterhält sogar ganz normale Beziehungen mit diesem Staat, der die Menschenrechte derart verletzt. Es trifft sicher zu, daß wir keine Alternative zu dem jetzigen Prozeß der Verhandlungen haben. Aber wir sollten der Welt die Wahrheit sagen. Unsere Regierung tut immer noch so, als ob es einen Friedensprozeß gebe. Das ist nicht wahr. Das genau ist meine Kritik an der Führung. Und ich verurteile die Aktionen von Hamas, weil sie Israel den Vorwand liefern, Kollektivstrafen zu verhängen. Diese Aktionen führen zu nichts.
Wenn man die Machtübernahme durch die palästinensischen Autonomiebehörden nach zwei Jahren Revue passieren läßt, so muß man zu dem Ergebnis kommen, daß es immer noch einen erheblichen Mangel an Demokratie gibt, ja eine fast totalitäre Macht der palästinensischen Behörden.
Genau so ist es. Der gewählte palästinensische Rat sollte es sich zur Aufgabe machen, das zu ändern. Es ist meine Absicht, die Demokratie zu stärken, und dafür werde ich arbeiten. Die Öffentlichkeit erwartet von diesem Rat, dessen Mitglied ich bin, daß er einiges geradebiegt. Trotz einer Mehrheit von al-Fatah (Arafats Organisation, d. Red.) oder den Autonomiebehörden im Rat sollten seine Mitglieder sich bewußt werden, daß sie gegenüber ihren Wählern Rechenschaft ablegen müssen und nicht gegenüber Arafat. Interview: Georg Baltissen, Gaza
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