: Das Buch mit der Maus
■ Literatur jenseits des Buches: Im Internet schreiben Autoren Texte, die ihre Leser zu neuen Geschichten montieren sollen
Die Spuren von Eis, Kaffee, Tomatensauce auf den Seiten und die abgestoßenen Ecken zeugen davon: Das Buch war Begleiter in allen Lebenslagen. Kaum hatte man sich niedergelassen, wurde es auch schon aufgeschlagen. Wer setzt sich schon hin und liest Scotts „Ivanhoe“ auf dem Bildschirm? Das Buch ist schöner, und wahrscheinlich billiger als seine Reproduktion im Internet, die an der Situation der Kunst selbst im übrigen wenig ändert: Ein Leser rezipiert einen Text, nur daß jetzt der Computer dazwischensteht. Und der kommt nicht überall mit.
Aber er holt Weltliteratur durchs Modem auf den Schreibtisch. Das Projekt Gutenberg zum Beispiel besteht darin, sämtliche Klassiker abzutippen und sie ins World Wide Web abzulegen. Doch es geht auch anders. Der Frankfurter Kunsthistoriker Gottfried Kerscher unterscheidet zwischen „Kunst im Internet“ und „Internetkunst“. Unter Kunst im Internet fällt die wissenschaftliche oder kommerzielle Aufarbeitung existierender Kunstwerke, Internetkunst hingegen unterliege anderen Gesetzen, sagt Kerscher: Sie „reflektiert das neue Medium, seine Besonderheiten und die ästhetischen wie technischen Gesetze.“
Das Fundament des abendländischen Kunstwerkes – der Begriff des Werks und seiner materiellen Grundlage – hat ausgedient. Kunst existiert nur noch im virtuellen Raum. Jeder kann berühmt sein – einen Mausklick lang. Ausgedient hat damit auch die strikte Trennung von Autor und Leser. Solche Internetliteratur will anders sein, interaktiv, vielschichtig. Nicht wie ein Buch auf sich selbst, sondern auf eine ganze Welt verweisend. Wie zum Beispiel Nelson Mandelas Autobiographie „Der lange Weg in die Freiheit“ (http:// www.oBs-us.com/obs/german/ books/Mandela/obsatp1.html). Neben dem Text stehen Links – zu Bildern des ANC-Führers im Gefängnis, seiner Antrittsrede als Präsident, zum Toast des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton oder zu WWW-Seiten über und in Südafrika. — Oder die Piefke-Saga (http://www.oBs-us.com:80/obs/ english/fbf/mitt/top.htm), ein Drehbuch von Felix Mitterer über Deutsche in Österreich:
Die Geschichte beginnt in einer TV-Show, mit Fuchsbergers Frage: „Wie viele Österreicher nennen die Deutschen prinzipiell Piefke?“ Im Film wird geschnitten, im Online-Text geklickt – zu Zuschauerreaktionen in Wien, Tirol oder in Berlin. Wie erlebt Familie Sattmann in Berlin die Sendung? Ist der nächste Urlaub in Tirol jetzt gestrichen? In Lahnberg, Tirol, schimpfen sie auf Blacky, weil sie dort ziemlich gut von den Piefkes leben. Die Handlung schreitet fort, doch wie, das bleibt dem Leser überlassen. Er klickt sich die Geschichte selbst zusammen, ist der Regisseur im eigenen interaktiven Film.
Noch einen Schritt weiter gehen die Hamburger Anbieter „Netville“ (http://www.netville.de/ bookware/bookware.html). Treefiction nennt sich das, was sich hinter dem Link „Storyline“ verbirgt. Nicht, daß die Idee besonders neu wäre. Gelangweilte Schüler vertrieben sich so schon lange die Zeit. Einer fängt eine Geschichte an und reicht sie den Nachbarn weiter, der eine Fortsetzung schreibt. Entsprechend in der Storyline: Ein Anfang ist vorgegeben, die Netizens schreiben weiter – die Fortsetzung der Geschichte, eine Ergänzung zum vorhergehenden Kapitel, die Ergänzung zur Ergänzung und so weiter.
Numeriert wird wie in Wittgensteins Tractatus. So ist es möglich, an jeder beliebigen Stelle der Geschichte weiterzuschreiben. Das Buch erzählt eine lineare Geschichte, in der Treefiction wird der Leser selbst zum Erzähler in einer baumartig verzweigten Geschichte.
Die Vielzahl der Autoren ist aber nicht immer von Vorteil. Zwar fließen eine Menge Ideen ein, so viele, daß die Einheit der Handlung verlorengeht. Anschlußfehler und Qualitätsschwankungen sind die Folge. Zum Beispiel in der Story „Blütenstaub“, die gleich als „German Pulp Fiction“ charakterisiert ist. Zu bemüht und gewollt sind die Ideen, von den grandiosen Einfällen Tarantinos keine Spur. Selbst Kurzbeiträge entbehren oft der Würze, die man der Kürze gewöhnlich andichtet: „Auch dieser Tag sollte in ihrer Phantasie gespeichert bleiben“. Schön. Aber was gab es denn zu speichern? Auch diese Antwort muß der Leser selber finden – handelt es sich vielleicht um den Versuch, ihn zum Weiterschreiben zu animieren?
Unterhaltsam ist „Blütenstaub“ trotzdem. Vor allem wegen solch grandioser Folgen wie „Mick und Mord“ oder „Gesucht wird: Mann, dumm und geil“ und der Antwort „Exkurs zum kriminellen Wesen der Frau“. Anders der „Venezianische Herbst“: Die Geschichte beginnt auf einer Fähre zur Friedhofsinsel der Lagunenstadt, will „konventionell, offen“ sein, und versandet bald in Untiefen. Auch das Baumprinzip funktioniert nicht so recht; die Kapitel purzeln durcheinander, von geordneter Reihenfolge oder verästeltem Aufbau keine Spur. Auch der Aufruf eines Autors: „Etwas mehr Feuer in die Szenerie, dieser Schlendrian ist ja ätzend!“ hat bislang nicht gefruchtet.
Trotz der veränderten Vorzeichen – einiges hat sich eben auch im Zeitalter der interaktiven Netzliteratur nicht geändert: weder die schwankende Qualität des literarischen Produktes noch sein gelegentlich fesselnder Charakter: Verpaßte man früher schon mal die richtige U-Bahn-Station, verpaßt man heute den Spielfilm oder das Abendessen, wenn man gerade an einer neuen Wendung der Geschichte sitzt. Werner Pluta
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