: „Menschen kämpften gegen Monstrum“
Ein Kraftwerksarbeiter beschreibt die Katastrophe des Atomkraftwerks von Tschernobyl. Offiziell haben drei Millionen Menschen den Opfer-Status. Tatsächlich sind viel mehr betroffen ■ Von Patricia Faller
Hamburg (taz) – „In der Nacht der Explosion hatte ich Dienst in der Wachmannschaft des Atomkraftwerkes. Ich erinnere mich gut daran, wie die Menschen gegen das Monstrum kämpften, das freigesetzt worden war.“ Beton, Graphit und große Teile des hochradioaktiven Reaktorkerns wurden in die Luft geschleudert. Innerhalb von wenigen Sekunden wurde der vierte Reaktorblock des Kraftwerks durch eine nukleare Explosion vollständig zerstört. So beschrieb Wasilij Osipowitsch Kotezki gestern in Hamburg auf einer Greenpeace-Veranstaltung die schwerste Katastrophe in der Geschichte der zivilen Atomnutzung am 26. April 1986 in Tschernobyl.
Wasilij Osipowitsch Kotezki mußte im Dienst bleiben, bis er abgelöst wurde. Seine Familie, die in der drei Kilometer entfernten Werkssiedlung Pripjat lebte, wurde am nächsten Morgen evakuiert. Viele der Arbeiter aber blieben, um bei den Aufräumungsarbeiten zu helfen.
Kein Tag, an dem sich Kotezki noch wohl fühlt
Bei Wasilij Osipowitsch Kotezki stellten sich erste gesundheitliche Probleme nach ein paar Jahren ein. Zuerst habe er sie auf die „harten Monate“ geschoben, in denen er sich an die neue Umgebung anpassen mußte. Doch in den vergangenen drei Jahren sei es immer schlimmer geworden: „Ich erinnere mich an keinen einzigen Tag in den vergangenen zwei Jahren, an dem ich mich gut gefühlt habe.“ Sein Krankenblatt ist lang: Gehirnentzündung, Verlängerung bestimmter Dickdarmabschnitte, Entzündungen von Magenschleimhaut und Gallenblase, chronische Entzündung der Prostata, Hämorrhoiden, funktionelle Störungen der linken Herzkammer und andere „kleinere“ Leiden.
Mehrmals im Jahr werde er in therapeutische Behandlung geschickt, in die Neurologie, Urologie oder Chirurgie: „Doch alles ist bloße Formalität und hilft uns nicht wirklich.“ Viel sei auch geschrieben worden über die großzügige Unterstützung und die Geldmittel, die für den Gesundheitsschutz der Strahlenopfer ausgegeben worden seien. „Aber ich habe davon noch nichts gesehen“, sagt der einstige Reaktorarbeiter.
Die Familie Kotezki gehört zu den ingesamt rund drei Millionen Einwohnern der Ukraine, die offiziell den Status von Opfern der Tschernobyl-Katastrophe haben, darunter 644.249 Kinder und Jugendliche. Die Ärztin der ukrainischen Nichtregierungsorganisation „Rettet die Kinder der Ukraine vor den Folgen der Tschernobyl-Tragödie“, Natalja Preobraschenskaja, rechnet mit noch viel schlimmeren Ausmaßen, wie sie gestern in Hamburg ausführte. Denn die Statistiken berücksichtigen nicht die drei Millionen Einwohner der Hauptstadt Kiew, die weniger als 100 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt. Ingesamt lebten nach Angaben des Ukrainischen Ministeriums für Statistik damals rund 17 Millionen Menschen in der kontaminierten Region. Obwohl aus der 30 Kilometer großen Sperrzone rund um die Anlage alle Menschen evakuiert werden sollten, leben dort noch immer 556 Personen. Sie sind entweder zurückgekehrt, weil sie sich in ihrer Ersatzheimat nicht zurechtfanden oder sie wurden erst gar nicht evakuiert.
Tausende leben weiterhin in kontaminierten Regionen der Ukraine, Weißrußlands und Rußlands. Und noch immer sind 15 Kraftwerke des gleichen Typs in Betrieb, laut Greenpeace.
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