Die leichte Anstrengung

■ „Labendig“: Eine Dokumentation aus Mecklenburg im 3001

Zur hohen Schule des Dokumentarfilms gehört die Forderung, das filmische Material habe seine Wirkung unkommentiert zu erzielen.

Ohne auch nur ein eingesprochenes Wort entführt Hannes Schönemann an einen Ort, der hinter den Sieben Bergen liegen könnte: Kloster Dobbertin, eine pastorale Idylle mit Bäumen, Hecken, Seeblick. Die Backsteinkirche steht wie seit Jahrhunderten mitten im Dorf, und auf Plätzen und Wegen geht es rege zu. Freundlich lachende Menschen allenthalben, ein wenig skurril vielleicht, aber schließlich leben sie irgendwo in einem vergessenen Herrgottswinkel – im tiefsten Mecklenburg, wissen Ortskundige oder Leser des Kinoprogramms. Letztere wissen auch, daß sie ein Spiel betrachten, genauer: viele kleine Inszenierungen, vom Filmteam dokumentiert und komponiert. Ort der Aufführungen: das Diakoniewerk „Kloster Dobbertin“, seit 1991 eine GmbH „zur Fürsorge und Förderung von Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung“, zuvor „Langzeitbereich“ der Bezirksnervenklinik Schwerin.

Die Bewohner setzen sich also selbst in Szene. Die Rede ist von Arbeit, Zukunft, Sinn des Lebens; das Spiel von Träumen, Liebe, Kummer und dem Alltag. Die Auftritte wirken unverkrampft, Spaß am Zufälligen im Inszenierten scheint immer im Spiel zu sein, und das Interesse Schönemanns an Schauwerten – und er mag vorzeigbare, „schöne“ Motive, nicht aber Inszenierungen von Tristesse zur Beglaubigung von vermeintlich hartem Realismus –, wirkt ausgeglichen fair. Selbst wenn einige Montagen allein vom Regisseur bestimmt sind – eine „Silly-Playback-Show“ ist Labendig nie. Und wenn Schönemann „Machen Se mal“ sagt, liest sich das forsch, klingt aber freundlich, und zu Gehör kommen auch mal Perlen des Liedguts, das „Heideröslein“, die „Caprifischer“. Ein alter Mann reimt sein Leben in Schüttelvers und Wortsinn auf Teufel-komm-raus. „Wir sind doch auch Wissenschaftler, haben Köpfchen und Ideen“, sagt ein anderer, und zeigt die von ihm entwickelten Apparaturen an seinem Fahrrad – ein toller Satz. Es entsteht fast eine irritierende Fiktion: die einer herrschaftsfreien Zone selbstbestimmter Menschen in verwunschener Idylle. Erst, als ein Mann nachdrücklich darauf hinweist, er sei freiwillig in Dobbertin, wird klar, daß andere eben nicht freiwillig dort sind. Kein Kommentar, kein Statement des Personals, dessen Arbeit und Macht (Schlüssel, Medikamente) immerhin kurz gezeigt wird. Der problematische gesellschaftliche Rahmen, in dem sich die Akteure bewegen, muß sich im Auge des Betrachters bilden. Der Film erzählt stattdessen: Irgendwo, in großer Nähe, so fern, leben Menschen, denen spielerisch leicht die Kraft für eine „schöne Anstrengung“ zufällt: „Labendig“.

Hans-Jost Weyandt