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Gericht erlaubt Scham

■ Urinprobenstreit im Knast: Justizsenator will Pinkeln unter Aufsicht abschaffen

Strafgefangene haben doch ein Recht auf Schamgefühl beim Verrichten ihrer Bedürfnisse: Die Wärter dürfen dem Gefangenen nicht beim Pinkeln zugucken, wenn eine Drogen-Urinprobe genommen wird. In einem jetzt bekanntgewordenen Urteil vom Dezember 1995 gab das Landgericht Hamburg einem Knacki der JVA Altengamme recht, der dagegen klagte, auf dem Klo vom Wachpersonal mittels Spiegel kontrolliert zu werden.

„Eine Urinkontrolle unter Beobachtung zweier Spiegel verletzt den Antragsteller in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht“, schreibt Richter Roth in seiner Begründung (Aktenzeichen 613 Vollz 87/85). „Die Mißachtung des Schamgefühls ist ein typisches Mittel zur Herabwürdigung einer Person.“

Trotz der Verpflichtung, bei Metha-donpatienten und Gefangenen der drogenfreien Stationen zu kontrollieren, ob sie unerlaubt Betäubungsmittel nehmen und sicherzustellen, daß die Urinprobe nicht verfälscht wird, sieht das Gericht die direkte Beobachtung als „unverhältnismäßig“. Es würde genügen, den Pinkler zu durchsuchen.

Ein Einzelfall ist diese Praxis keineswegs. Mediziner und Betroffene kritisieren seit langem, daß nicht nur die täglichen Urinproben schikanös und unnötig teuer seien – die Drogensubstanzen sind tagelang nachweisbar. Pinkeln unter Aufsicht verstoße auch „gegen die Menschenwürde“, so der Substitutionsarzt Manfred Peters (taz berichtete).

Justizsenator Wolfgang Hoffmann-Riem (parteilos) „überlegt seit einiger Zeit, wie die Zahl der Urinproben und die Modalitäten verändert werden können“, gab Behördensprecherin Irene Lamb gestern überraschend bekannt. Der Gerichtsbeschluß sei „ein zusätzlicher Anstoß“ gewesen. Wahrscheinlich würde man in Zukunft so verfahren, wie das Gericht vorschlägt: Nach einer Durchsuchung den Knacki mit seiner Blase allein zu lassen, wie es in jeder substituierenden Arztpraxis üblich ist. Sollten tatsächlich Chemikalien oder Wasser beigemischt oder die Probe verweigert worden sein, so das Gericht, könnten für den Betroffenen „konkrete Nachteile“ folgen.

Silke Mertins

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