: Als vom Ersten Rang die Eier flogen
■ Im Gespräch: Martin Sperr über die Wiederbelebung seiner „Jagdszenen aus Niederbayern“ und über die wilden Zeiten des Bremer Theaters/ Samstag Premiere
Er war 22 Jahre alt, als sein Erstling „Jagdszenen aus Niederbayern“ uraufgeführt wurde. Das war im Mai 1966 in Bremen, in den „Kammerspielen Böttcherstraße“. Die erbarmungslose Jagd einer engstirnigen Dorfgemeinschaft auf einen Außenseiter, den schwulen Abram, gehört inzwischen zum literarischen Inventar der 60er Jahre. Das Stück lief in kürzester Zeit auf fast allen deutschen Bühnen, es wurde ein internationaler Erfolg. Martin Sperr gilt seither als Mitbegründer eines neuen kritischen Volkstheaters. 30 Jahre nach der Uraufführung kommt nun eine neue Fassung: Martin Sperr inszeniert sie selbst – zusammen mit Hans Mezer – am Stadttheater Bremerhaven.
taz: Ihr erstes Engagement hatten Sie 1965 am Bremer Theater, Das waren die goldenen Zeiten, sie lernten Wilfried Minks und Peter Zadek kennen.
Martin Sperr: Es galt zumindest als das fortschrittlichste Theater der Republik und war's wohl auch praktisch. Es gab auch sowas wie einen eigenen Bremer Stil,der vorwiegend von Wilfried Minks geprägt wurde. Der hat bei mir das Bühnenbild gemacht.
Aber dieser Bremer Stil stieß nicht nur auf Gegenliebe?
Es wurde halt auch mit faulen Tomaten und Eiern geschmissen. Die Platzanweiser hatten schon immer vorher Bescheid gesagt, wo was ist. Zum Beispiel Eier im Ersten Rang, im Zweiten Rang Tomaten oder Tröten oder was grad anlag. Die haben das in Plastiktüten transportiert.
Die Tomaten wurden nicht vorher konfisziert?
Jeder konnte ins Theater mitbringen, was er wollte.
Bei welchen Inszenierungen ist das passiert?
Bei den „Räubern“ war's. Eine sehr unkonventionelle Aufführung. Minks hatte ein Bühnenbild gemacht, das hat sich an Comics angelehnt, und wir trugen entsprechende Kostüme und Masken. Es wurde auch in einer Art Comic-Stil gespielt. Und ein Teil des Publikums wollte das überhaupt nicht haben. Ein anderer Teil war wieder sehr begeistert.
Haben Sie da selbst mitgespielt?
Da habe ich den Pastor Moser gespielt.
In der Bremer Uraufführung Ihrer „Jagdszenen“ spielte Vadim Glowna die Hauptrolle ...
Ich fand die Aufführung als Ganzes schrecklich, aber der Vadim war schon hochanständig. Die Regie (Rolf Becker) hatte nicht berücksichtigt, daß das Bühnenbild (von Minks) einen realistischen Stil, aber keinen naturalistischen braucht. Die Diskrepanz ging über das ganze Stück.
Und das Premierenpublikum ...
Das bestand aus lauter Förstern, die meisten hatten Jägertrachten an, vielleicht war das der Alpenverein, ich weiß es nicht.
Die „Jagdszenen“ wurden in halb Europa, in Japan und den USA aufgeführt. Sind Sie mit dem Stück reich geworden?
Ich haben gut verdient ind alles verfressen. Es ist nichts mehr da.
Sie haben 1972 beim Reifenwechsel einen Gehirnschlag erlitten ...
Das war kein Unfall, das war eine Krankheit, ein Gehirnschlag, der in jedem Fall gekommen wäre. Ich hab aus meinem Horoskop gewußt, daß irgendetwas kommt. Ich hatte es nur falsch interpretiert, ich dachte, ich schnapp über. Im Nachhinein ist völlig klar, daß es eine physische Sache ist. Ich bin ein halbes Jahr im Koma gelegen, ich war zwischendurch auch mal klinisch tot. Aber da wird man wieder angeschmissen. Den Gehirntod konnte man damals noch nicht verläßlich nachweisen.
Aber Sie haben es geschafft, in Ihren alten Beruf zurückzukehren.
Das hat schon lang gedauert. Ich mußte alles neu lernen. Sprechen, gehen, lesen, reden, alles. Das war richtige Arbeit. Aber die Zellen sind scheinbar so angelegt, daß man es dann wieder abrufen oder reaktrivieren kann.
Was Sie jetzt aus den „Jagdszenen“ machen, nennen Sie „Bremerhavener Fassung“. Warum?
Ich habe den zweiten Teil des Stücks sehr gerafft, wir haben zwei Bilder und zwei Rollen gestrichen.
Kann das Stück denn heute noch so provozieren wie vor 30 Jahren?
Ich glaub schon, weil sich fast nichts geändert hat. Die Veränderungen an dem Paragraphen 175 sind in Wirklichkeit Schönfärberei.
Was sich mit der Schwulenbewegung seit 20 Jahren entwickelt hat, das sind in Ihren Augen nichts als Lippenbekenntnisse?
Ja, ja, ja. Würde ich schon sagen. Man soll aufhören, Menschen zu jagen, das ist – sagen wir mal ganz blöde – die Botschaft des Stückes.
Aber können Botschaften auf der Bühne Verhältnisse verändern?
Der Meinung war ich mal, aber ich bin lange genug dabei, um zu wissen, daß Theater nichts verändert. Vielleicht leitet es bei zwei, drei Leuten einen Denkvorgang ein, aber gesellschaftliche Veränderungen gehen vom Theater sicher nicht aus.
Aber Theater ist für Sie trotzdem eine „moralische Anstalt“?
Ja. Ich bin der Meinung, daß Lachen ein revolutionärer Vorgang ist.
Kannn man über die „Jagdszenen“ lachen?
Auch, natürlich, nicht über alles. Das Stück ist so tragisch, wie es auch komisch ist. Es hat schwarzen Humor. Ich kann mich in den „Jagdszenen“ wahnsinnig amüsieren, auch über die tragischen Seiten. Ich find im Theater sowieso nur noch die Komödien möglich.
Fragen: Hans Happel
Premiere am 23. März um 19.30 Uhr, Großes Haus im Stadttheater Bremerhaven
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