■ Heute wird in Taiwan gewählt. James C.Y. Chu, wichtigster Berater des taiwanischen Präsidenten:: „Peking hat kein Selbstbewußtsein“
taz: Viele Ihrer taiwanischen Mitbürger sagen, die eine Hälfte ihres Herzens gehört Taiwan und seiner Unabhängigkeit, und die andere Hälfte gehört China und der Wiedervereinigung. Teilen Sie diese Gefühle?
James Chu: Ich kann diese Gefühle verstehen. Unabhängig davon, ob wir in Taiwan geboren wurden oder vor fünfzig Jahren vom chinesischen Festland hierher kamen, fühlen wir uns doch als Teil dieser Insel und sind hier verwurzelt. Unser politisches System unterscheidet sich grundsätzlich von der Volksrepublik. Wir leben in einer freien Gesellschaft. Die Menschen auf dem Festland leben unter dem Kommunismus. Die Deutschen müßten das verstehen: Auch sie haben jahrzehntelang in zwei Systemen gelebt. Für die meisten Taiwaner ist das ein Grund, am Status quo festzuhalten. Nur ganz auf der Rechten gibt es Unterstützung für die Wiedervereinigung und ganz links Befürworter der Unabhängigkeit.
Peking hat den Eindruck, die Kuomintang tendiere heute unter ihrem Präsidenten Lee Teng Hui zur größeren Unabhängigkeit Taiwans. Deuten die rasche Demokratisierung und das forsche Auftreten Ihres Präsidenten auf ein neues Selbstbewußtsein Taiwans hin?
Alles, was Präsident Lee getan hat und bis heute tut, ist eine Antwort auf die Wünsche unseres Volkes. Das Volk wünscht, daß wir nach draußen gehen. Wir wollen nicht isoliert sein.
Unsere Isolierung ist uns von Peking aufgezwungen worden. Isolierung führt zu Erstickung, und Erstickung führt zum Tod. Wir brauchen Luft zum Atmen in unseren internationalen Aktivitäten. Es geht nicht darum, ob wir forsch oder zurückhaltend auftreten. Wir wollen ein aktives Mitglied der internationalen Gemeinschaft sein. Das hat nichts mit Unabhängigkeit zu tun.
Die Opposition will heute auf eine formelle Unabhängigkeitserklärung verzichten. Bewegen sich alle vier Präsidentschaftskandidaten innerhalb des taiwanischen Status quo?
Nein. Der Kandidat der größten Oppositionskraft, der Demokratischen Fortschrittspartei, Peng, befürwortet die Unabhängigkeit. Er war früher Professor, und ich mag ihn, aber er ist ein schlechter Politiker.
Die Vision eines asiatischen Jahrhunderts basiert auf einem China, das sich der Welt öffnet und am Wirtschaftswachstum der Region teilnimmt. Stellt die jetzt erneut entstandene Taiwan-Krise diese Vision in Frage?
Wir wollen ein China, das Wohlstand entwickelt. Wohlstand führt zu Demokratie. Armut führt zu Totalitarismus und Kommunismus. Wirtschaftliche Entwicklung kann auch in China nur zur Entstehung einer Mittelklasse führen. Mit der Mittelklasse kommt die Zeit der Demokratie. Erst sie garantiert Stabilität.
Wenn sich also China weiter wirtschaftlich entwickelt, werden auch die Menschen besser informiert sein. Der Wandel wird dann unvermeidlich.
Deng Xiaoping, der in Peking immer noch an allen Fäden zieht, hat gemeint, die Chinesen sollen politisch einen Schritt nach links und wirtschaftlich einen Schritt nach rechts gehen. Das geht aber nicht. Man muß geradewegs durch die Mitte gehen.
Wie stehen Sie zur chinesischen Führung? Hat der Haß aus der Zeit des Bürgerkriegs zwischen KP und Kuomintang überlebt, oder gibt es heute auch gegenseitigen Respekt?
Ich hasse die Pekinger Führer nicht, aber ich empfinde auch keinen Respekt ihnen gegenüber. Sie leben noch in den sechziger Jahren. Ihre Manöver vor Taiwan erinnern mich an die kubanische Raketenkrise Anfang der sechziger Jahre. Deng Xiaoping und Jiang Zemin haben die Mentalität eines Nikita Chruschtschow, aber wir leben in den neunziger Jahren, nur vier Jahre vom 21. Jahrhundert entfernt. Diese Führer können einem nur leid tun.
Wie kann man mit diesen Leuten umgehen, um zu vermeiden, daß in Asien wieder ein Kalter Krieg ausbricht?
Einige Leute in Washington und Peking leben immer noch so, als sei die Ära des Kalten Krieges nicht vorbei. In Washington hat die Regierung im vergangenen Jahr von der Eindämmung Chinas gesprochen und damit eine Terminologie des Kalten Krieges benutzt. Ich bin deshalb im September in die USA gereist und habe dagegen protestiert. Ein paar Tage später sprach Washington dann von Engagement und nicht mehr von Eindämmung.
Was Jiang Zemin betrifft, wendet auch er in dieser Raketenkrise die Taktiken des Kalten Krieges an. Doch wir befinden uns in einer Ära des Dialogs, nicht der Konfrontation.
Unmittelbar nachdem Jiang Zemin im vergangenen Jahr versprochen hatte, daß „Chinesen nicht gegen Chinesen kämpfen“, reiste Präsident Lee in die USA und schürte damit Pekings Ärger. Hatten Sie es darauf angelegt, Jiang einen Gesichtsverlust zuzufügen?
Herr Lee hat klar gesagt: All die Propagandaattacken und militärischen Drohungen nach seinem USA-Besuch kamen für ihn völlig überraschend. Es handelte sich um eine private Reise, er hat dort lediglich eine Universität besucht. Die Überreaktion Chinas zeigt mir, daß, obwohl die Volksrepublik 1,2 Milliarden Menschen zählt und über eine gigantische Armee verfügt, die Führung in Peking schwach ist. Die Militärmanöver sind ein Zeichen von fehlendem Selbstbewußtsein.
Besteht vor diesem Hintergrund einer Führungskrise nicht die Gefahr, daß der Westen zu aggressiv reagiert?
Der Westen hat das Richtige getan. Er hat gesagt: Hört auf damit und benehmt euch, sonst werdet ihr Schwierigkeiten bekommen! Peking wird jetzt klug genug sein, sein Verhalten zu ändern.
Wie steht es um die Demokratie in der Kuomintang?
Die Demokratisierung begann vor etwa zehn Jahren. Damals sandten wir ein Gelehrtenteam in viele Länder, um die Folgen einer Demokratisierung auszukundschaften. Man brachte die Botschaft zurück, daß das Unternehmen einen Preis hat. Die Anzahl der Stimmen, die unsere Partei bisher bei Wahlen erhalten hatte, würde fallen: von 90 auf 70 und später unter 50 Prozent. Bei manchen Bürgermeisterwahlen würde die Opposition gewinnen, wie es jetzt in Taipeh geschah. Und eines Tages würden wir den Status der Regierungspartei verlieren.
Unser damaliger Präsident Chiang Ching Kuo entschied sich dennoch für die Demokratie. Präsident Lee Teng Hui beschleunigte dann den Prozeß, indem er sich gegen den Willen der Partei für direkte Präsidentschaftswahlen aussprach. Die alten Garden der Partei halten ihn seither für einen Verräter.
Wird Präsident Lee nach den heutigen Wahlen zum Volkshelden?
Helden gibt es in der Demokratie nicht. Es wird für Lee bei den Wahlen sehr schwer werden, 50 Prozent der Stimmen zu erreichen. Das heißt, unsere Gesellschaft ist gespalten. Und das ist gut so. Interview: Georg Blume, Taipeh
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