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"Dann schlage ich ein Zelt auf"

■ Gesichter der Großstadt: Dieter Emmler ist querschnittsgelähmt. Nun droht dem 44jährigen und seiner Hausgemeinschaft in der Görlitzer Straße in Kreuzberg die Räumung

„Das ist wie in so einer Familie hier“, sagt Dieter Emmler über sein Leben mit den Leuten im zweiten Hinterhaus der Görlitzer Straße 36. Sie sind neun Hauptmieter, ein paar Untermieter, auch Hunde, und die meisten von ihnen leben von Sozialhilfe. „Manchmal kieken wir uns zwei Tage nicht an“, aber danach sei wieder alles intakt.

Doch nun droht Dieters „Großfamilie“ die Kündigung und damit die Obdachlosigkeit, denn der Pachtvertrag für das ehemals besetzte Haus läuft im Sommer aus. Solte der neue Eigentümer, die Münchner Nomo GmbH, eine Verlängerung der Verträge verweigern, fiele für Dieter eine funktionierende Hausgemeinschaft weg, auf die der querschnittsgelähmte Mann seit seinem Unfall 1988 angewiesen ist.

Damals stürzte er bei einer Wohnungseinweihung vom Fensterbrett neun Meter tief – Wirbelsäulenbruch. Die Meldung aus der BZ über seinen Unfall hat der 44jährige aufgehoben. Bei der Feier „gab es keine Stühle, und da mußte ich mich ins Fenster setzen“. Es war heiß damals, das Fenster offen und er hatte zuvor schon ein paar Bier auf einem Richtfest getrunken. Seitdem „läuft unterhalb des Gürtels gar nichts mehr“.

Er bekam eine neue Wohnung nach dem Unfall, in einem Neubau in Kreuzberg. Doch dort hielt es „Rolli“, wie ihn seine Freunde nennen, nicht lange aus. „Nie hat jemand gegrüßt“, sagt Dieter vorwurfsvoll, „und der Nachbar war so ein Bürohengst.“ Der hatte für Dieters Feten kein Verständnis. Er sei halt ein „ausgeflippter Rollstuhlfahrer“ und noch keine siebzig Jahre alt, rechtfertigt er sich. Als Zimmermann konnte er nach seinem Unfall nicht mehr arbeiten. So zog Dieter tagsüber oft durch den Kiez, auch zum Kottbusser Tor, wo die Punker standen.

Dort lernte er seine Freunde aus der Görlitzer Straße kennen. Irgendwann fragten ihn die Exhausbesetzer, ob er nicht mit einziehen möchte. Seit sieben Jahren wohnt Dieter Emmler nun in der kleinen Anderthalbzimmerwohnung mit Außenklo im Parterre. In den Hof vor dem zweiten Hinterhaus fällt kaum Licht. An der kleinen Eiche hängen noch vertrocknete braune Blätter vom vergangenen Herbst. Dahinter führt eine zementierte Rampe zu seiner Wohnungstür, für die der resolute Rollstuhlfahrer lange gekämpft hat. Daß das alles umsonst gewesen sein soll, sieht er nicht ein.

Im seinem großen Zimmer laufen Radio und Fernseher den ganzen Tag, „damit immer etwas in Bewegung ist“, wie er sagt. An den Wänden hängen Plakate von Motor Rock, deren schwarzes T-Shirt er trägt. Die Band hat „Rolli“ zum Ehrenmitglied gemacht. Ihre Konzerte darf er kostenlos besuchen – backstage versteht sich.

Einmal pro Woche geht Dieter Billard spielen in die Falckensteinstraße oder in die Kneipe „Südpol“, weil es dort keine Stufen zu überwinden gibt. „Ich will nicht immer nur den Hof und die vier Wände sehen“, erklärt er. Aber öfter kann er sich Ausflüge mit seiner Rente von knapp 1.000 Mark und einer Miete von 550 Mark nicht leisten, abgesehen vom wöchentlichen Besuch bei seiner Mutter im Wedding. Dort ist Dieter aufgewachsen. Seine Mutter lebt allein: „Das ist der einzige Familienkontakt, den ich noch habe.“

Die Hausgemeinschaft ist zur Ersatzfamilie geworden. Jeden morgen ab halb elf steht Dieters Tür offen. Sie kommen ihn oft besuchen, sitzen mit im Hof, reden oder kaufen für ihn ein. In diesem harten Winter haben sie Dieter manchmal aus dem Schnee befreien müssen, wenn er sich festgefahren hatte. Und diese Geborgenheit steht für ihn auf dem Spiel, sollte der Eigentümer die Mietverträge nicht anerkennen.

In jedem Fall möchte Dieter in Kreuzberg bleiben. Hier seien die Leute interessant und tolerant, es gebe so eine Spannung im Bezirk, versucht er sein Gefühl zu beschreiben, das ihn an den Kiez bindet. „Und wenn ich mal 'nen Krampf im Arm habe, schieben mich Passanten zur nächsten Ecke.“ Wenn die Räumung kommt, will er mit seinen Freunden ein großes Armeezelt nebenan im Görlitzer Park aufstellen. Ein „ausgeflippter Rollstuhlfahrer im Zelt“, stellt sich Dieter vor, „das ist dann auch was für die Medien“. Torsten Teichmann

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