: Russische Konzentrationslager in Tschetschenien?
■ Ex-Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow erhebt schwere Vorwürfe gegen Regierung in Moskau. Russische Sondertruppen starten Großoffensive in Grosny
Moskau/Alchasurowo (AFP/ dpa) – Der ehemalige russische Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow hat der russischen Armee vorgeworfen, sie habe in Tschetschenien „Konzentrationslager“ eingerichtet, in denen Menschen gefoltert und auch Kinder festgehalten würden. In einem offenen Brief an die beiden Kammern des russischen Parlaments, den die russische Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta gestern veröffentlichte, erklärte Chasbulatow weiter, 370 der 410 tschetschenischen Städte und Ortschaften seien durch russische Angriffe zerstört worden, ein Drittel der 1,2 Millionen Einwohner Tschetscheniens sei auf der Flucht. In dem Krieg seien bereits 60.000 Zivilisten getötet und 100.000 verletzt worden.
Unterdessen starteten russische Sondertruppen gestern einen Großangriff auf Grosny, um die tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfer zu „liquidieren“. Dieser Einsatz umfaßt nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax auch Blockaden und Hausdurchsuchungen. Mehrere hundert Soldaten der Omon-Einheiten des Moskauer Innenministeriums stünden für den Einsatz zur Verfügung, der bis April dauern solle, sagte ein hochrangiger Mitarbeiter der russischen Sicherheitskräfte gegenüber Interfax. Die „Säuberungen“ sollten vor allem in vier Stadtvierteln Grosnys erfolgen. Dort hielten sich noch etwa 500 Rebellen versteckt.
Zum Abschluß seines 24stündigen Aufenthalts in Tschetschenien zeigte sich der russische Verteidigungsminister Pawel Gratschow laut Interfax mit den Militäreinsätzen seiner Einheiten zufrieden. Die „Operation zur Liquidierung der Banditengruppen“ komme gut voran, sagte Gratschow. Ferner kündigte er an, nach der Bekanntgabe eines Friedensplans durch Präsident Boris Jelzin werde es zwar einen Teilrückzug der russischen Truppen geben. „Aber man kann nicht sagen, daß der Frieden bald kommt.“ Die Attacken der Rebellen würden noch lange Zeit fortgesetzt, und seine Soldaten würden auch weiter dagegen vorgehen.
Wie aus dem Generalstab verlautete, sollen die Truppen zunächst in den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien stationiert werden. In Tschetschenien selbst sollen zwei Brigaden auf Dauer verbleiben.
Der russische Präsident Boris Jelzin will am kommenden Wochenende einen Friedensplan für Tschetschenien bekanntgeben. Er hatte die Verkündung seiner Friedensinitiative mehrfach hinausgezögert. Ohne eine positive Entwicklung im Kaukasus-Konflikt werden ihm bei den Präsidentschaftswahlen im Juni praktisch keine Chancen eingeräumt.
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