Theater ohne Airbag „Musik interessiert mich nicht so sehr“

■ Grell, roh, sensibel, farbig: Der Komponist Helmut Oehring stellte im Workshop und im Konzert bei Radio Bremen seine einzigartige Musik vor

Es gibt so viele unterschiedliche Lebens- und Ausbildungswege wie es KomponistInnen gibt. Der des 1961 geborenen Helmut Oehring sprengt jedoch alles nur Vorstellbare. Bei Oehring ist schlichtweg alles anders. Als Sohn gehörloser Eltern ist für ihn die gesprochene Sprache eine zweite, eine erlernte Sprache. Musik, und erst recht neue, hat er nie im Leben gehört, auch wenn er sich auf der Gitarre versuchte. Er wurde Baufacharbeiter, Küster, Friedhofsgärtner, Hausmeister. 1984, also im Alter von 23 Jahren, in dem andere sich schon von einem Wettbewerb zum anderen komponieren, hörte er Friedrich Schenkers „Missa Nigra“ und entdeckt in dieser Musik Gesten und Gebärden – die Elemente seiner Muttersprache. Fortan komponierte er – als Autodidakt.

Zwei Themen bestimmen sein Oeuvre: zum einen die Beziehungslosigkeit zwischen den gehörlos Sprechenden (Gebärdensprache) und den Lautsprache Sprechenden; zum anderen bezieht Oehring konkret politisch Stellung und mischt sich mit seiner Musik dort ein, wo er Minderheiten für unterdrückt hält. Jetzt war Oehring zu Gast in Bremen. In einem Work-shop sowie einem anschließenden Konzert im Sendesaal von Radio Bremen (Reihe „Bremer Podium“) stellte er seine ganz spezifische musikalische Ausdrucksweise vor.

„Musik interessiert mich eigentlich nicht so sehr“, erklärte er dem zahlreich erschienenen und ob dieser Tatsache erstaunten Publikum beim Workshop. „Ich habe eher den Eindruck, daß ich einen Film oder Theater mache.“ Er denkt in Gebärden, die bei ihm Musik werden, was er aber wiederum nicht so empfindet? „Weeß ick nich“. Immer, wenn's in diesem Gespräch, das so aufregend war wie selten zuvor beim „Bremer Podium“, um das Innerste von Helmut Oehring ging, verfiel dieser in seinen Berliner Dialekt: „Ick bin total uffjereegt, weil ick hier quatschen muß“.

Am Abend dann die Aufführung einiger Oehring-Kompositionen. In einer großartigen Interpretation des Kammerensembles Neue Musik Berlin unter der Leitung von Roland Kluttig erklang Oehrings Werk „Self-Liberator“ von 1994. Im Stück für Ensemble und zwei Gehörlose sprechen die Gehörlosen Christina Schönfeld und Gerlinde Demel nonsensartige Texte, einen in deutscher Gebärdensprache und einen in Lautsprache; wie gewürgt klingt das. Verstehbar nur für den Komponisten selbst, „und da freu ick mir wie ein Schneekönig“. Er zeigt darin die Gebärdensprache und die Musiksprache: Niemand versteht sich. Hörende machen Gebärden, Gehörlose müssen sprechen: Auch das keine Lösung für ein besseres Verstehen untereinander.

Der klangliche Eindruck der akribisch niedergeschriebenen Partitur („so richtig mit Fähnchen und so“) ist überwältigend: grell, roh, sensibel, farbig, sehr rhythmisch und zum Teil an der Rockmusik orientiert; eine Musik, die scheinbar neu erfunden, ohne Tradition und vor allem ohne Theorie zu sein scheint. Die von den beiden Interpretinnen synchron ausgeführte Gebärdensprache darin wirkt wie eine expressive Choreographie.

Oehrings zweites Thema: Er schafft suggestive Hörbilder über Außenseiter und zum Außenseiter Gemachte, gleich, ob dieser Tatsache eine psychische oder physische Krankheit zugrunde liegt. Das Stück „Locked-in“ für Streich-Trio und Gitarre basiert auf einem medizinischen Begriff: das „Locked-in-Syndrom bezeichnet die Funktionsstörungen des Sprechens und Denkens aufgrund von Verletzungen der Großhirnrinde“ (Programmheft). Wie die insistierende Musik mit ihren peitschenden, gewalttätigen Rhythmen gemeint ist, muß offen bleiben. Oehring würde dieses auch gar nicht beantworten: „Ich will nichts ausdrücken, aber vielleicht scheint es unbewußt durch“.

So offen die Interpretationen bleiben müssen, so deutlich sind die Titel. „Leuchter“ für Oboe, Cello, Klavier und Zuspielband: Fred Leuchter ist der Erfinder der Todesspritze, die 1989 in den USA den Elektrischen Stuhl abgelöst hat. Die Musik ist hart, ja: brutal, klingt wie eine Maschine. „Cayabyab“ für Baßklarinette, Vibraphon und Cello: Dr. Cayabyab ist der medizinische Berater dieser Hinrichtungen. Gewalttätig und roh klingen die Pizzicati des Cello, eine Pianissimo-Ebene scheint die Verletzten einzubeziehen. „Foxfire zwei“ für Baßklarinette: Foxfire eins, zwei und drei sind die Befehlscodes für die drei Todesspritzen. Das Stück ist ein extrem leises, agonieartiges Stück mit zweistimmiger Doppelatmung: Fabelhaft gespielt von Theo Nabicht.

Es ist an uns, wie wir's verstehen. Oehring hat keine illustrativen Vorstellungen, auch keine Theorie. Im Workshop immer wieder auf die Musik festgelegt, konterte er: „Alles Komplizierte im Kopf entsteht bei mir über Gebärden. Erst kommen die, und dann die Farbe, der Klang, die Stimmung. Sie versuchen, mir das anders unterzujubeln!“ Und dann wieder berlinisch in seinem Element bei der Frage nach der reichen Verwendung von Elektronik: „Kapitalvernichtung. Ick find det jut, wenn's teuer ist und icke bin ooch dabei!“. Und der seriöse ästhetische Aspekt: „Mit Elektronik kann ich Sprache deutlich und mehrschichtig machen“.

Oehrings Karriere bewegt sich in schwindelerregende Höhen. Nach zahlreichen Künstlerstipendien schreibt er für die Musikbiennale München 1996 eine Tanzoper, für die Donaueschinger Musiktage ein Stück für's Ensemble Modern, für die Deutsche Oper Berlin ebenfalls 1996 eine Kammeroper und für 1997 hat er einen Kompositionsauftrag für die Salzburger Festspiele in der Tasche. Die Veranstalter und das Publikum reagieren auf das ungehobelte, das archaische, das vollends unabhängige Klangbild von Helmut Oehring („die Stücke anderer Damen und Herren sagen mir nichts“). Da bleibt nur zu wünschen, daß der Betrieb eine solch innovative Kraft nicht schluckt. Denn nirgends ist es gefährlicher als in der Kunst, sich zu wiederholen und damit sich selbst zum System zu machen.

Ute Schalz-Laurenze