piwik no script img

Auch Urin gibt einen Regenbogen

„Richter ist ein unbedeutender Wicht, aber ich wohne drin, im Wicht.“ Neues von Johann Paul Friedrich Richter alias Jean Paul: Unveröffentlichtes und „Sämtliche Werke“ günstig wie nie  ■ Von Guido Graf

Krieg ist allgegenwärtig, in flachen Bildern auf dem Schirm, in den diversen Diskursen, in der Literatur. Doch selten gehen Klang und Imagination in eins wie in diesen Sätzen, die Jean Pauls Herausgeber Rolf Vollmann auswendig zu lernen empfiehlt: „Aber wenn ein Flammenmorgen unter dem Geschrei aller Vögel, sogar der gefangenen, von den Dächern in unsere Gassen niedersinkt, wenn der Postillon mich mit seinem Horn erinnert, daß er aus den eckigen, spitzigen, verwitternden, unorganisch zusammengeleimten Schutthaufen der getöteten Natur, wo eine Wurzel die andre umklammert, wo alles mit- und ineinander wächset und alle kleinere Leben sich zu einem großen unendlichen Leben ineinander schlingen: da tritt jeder Bluttropfen meines Herzens zurück vor den Pechkränzen, Trancheekatzen und vor den Wischkolben, womit die Artillerie unsere blauen Morgenstunden ausstopfet. – Dennoch vergess' ich die grünende Natur und die Kontraminen, womit wir sie in die Luft aufschleudern lernen, und sehe bloß die langen Flöre, die an den Stangen aus dem Hause eines Färbers gegenüber in die Höhe fliegen, schon wie Nächte über den Gesichtern armer Mütter hängen, damit der Tau des Jammers im Dunkeln hinter den Leichen falle, die wir am Morgen machen lernen.“

Der Krieg ist in den Köpfen, oder, schlimmer noch, in den Herzen als „Hohlspiegel der Wunden“, die er da hineinschlägt. Und für die Blicke, die zurückgeworfen werden, eine Sprache zu finden, die das aushält und ins Bild bringt, wäre nicht die geringste Aufgabe für Literatur. Was man für gewöhnlich Mitgefühl nennt, ist die sprachgewordene Gabe Johann Paul Friedrich Richters, der sich als Autor, als sein andres Ich, Jean Paul nennt. Dieser Richter ist ein „unbedeutender Wicht; aber ich wohne darin, im Wicht.“ Für die Nachwelt existiert also nur noch Jean Paul, eine buchstabile Existenz. Kein Einfall soll untergehen. Der Kandidat und spätere Hauslehrer Richter wird ausgestrichen. Diese Selbsttaufe ist Programm, der Entschluß, nie wieder mit dem Schreiben, dem Exzerpieren, Notieren, dem Anlegen von Registern für dieses „Ideen-Gewimmel“, mit dem Auffüllen jeder Ecke unbeschriebenen Papiers jemals aufhören zu wollen.

Zwei Drittel Kräfte in der Ehe verloren

Die Hindernisse, die alltägliche Vorgänge, Eheleben oder auch nur körperliche Verrichtungen für sein Schreiben bedeuten, sind immer wieder Anlässe für Klagen: „Man sollte eine Geschichte der Unterbrechungen der Dichter und Denker schreiben – durch das Haushalten, Menschenleben – zwei Drittel Kräfte gehen so in der Ehe verloren, weil ein unterbrochener Enthusiasmus ein vernichteter ist“ – aber auch für deren ironische Aufhebung: „Die Pflanzen nehmen Nahrung, ohne Exkremente zu geben.“ Mühelos setzen sich die dichterischen Visionen von diesen Niederungen des Körpers ab.

Bilderwelten, die ebenso apokalyptische wie ideale Unendlichkeiten beschwören, lösen sich zu einer Art Meta-Literatur. Und das Leben geht unterdessen dahin: „Jetzo indem ich zum Aufschreiben einer Bemerkung nach Vita hinlange, hab ich sie vergessen; und nur durch Schreiben habe ich dieses Bemerken des Vergessens nicht vergessen.“

Ich schreibe, also bin ich, sagt das geschriebene Ich. Da könnte man eine geheime Klage vermuten, gefangen in einer gewissen Zwanghaftigkeit. In späteren Jahren schien Jean Paul es hin und wieder bedauert zu haben, die Hälfte seines eigentlichen Namens in die französische Form getauscht zu haben, so als hätte er einen Teil seines Selbst damit abgegeben. Mit Erfüllung und wahrem Glück hat die gewählte Dichterexistenz nichts zu tun. „Wenn einem Menschen, eh er seine zwei Arme an den Fus- oder Armblok des Schreibtisches schmieden lässet, das leere Papier vorgelegt würde, das er in seinem Lebenselend volzumachen hat bis er das übrige besser fült: er würde ohne Schreibfinger auf die Erde wollen.“

Doch dafür ist es zu spät. Das Schreiben ist für Jean Paul eben auch Lebenselixier, ganz handfest in der Angst verstanden, es könnte die „Dinte eher bleich werden“ als er selbst. Auch der Tod zählt nur mehr, wenn er geschrieben steht.

„Vor dem Tode ist kein Kraut gewachsen, auch der Lorber nicht.“ Der Dummheit verweigert Jean Paul den Tribut. Das ist die Fähigkeit, sich selbst als einen anderen sehen und denken zu können, die Maske auch umstülpen zu können, ohne das Gesicht zu verlieren. Für die Konstellationen in den Romanen gilt das ebenso wie für die Figur des Autors Jean Paul. „Wäre ich jung, so brächt' ich einige Schreibmonate auf dem Thurmgelände zu: ich rückte mit meinem Stuhl um den ganzen Thurm herum, um Schatten zu haben. Ich oder mein Stuhl wäre eine Sonnenuhr, die aber den Schatten selber zeigte.“

Immer wieder scheint die Ironie Jean Pauls die große zerstörerische Kraft zu sein, die allem überlegen ist, alles verwandeln kann, die die artistischen Spiralen seiner Schreibweise bohrend antreibt. Und doch steht untrennbar, heute allzu leicht übersehen, ein ebenso starkes moralisches Potential daneben.

Nicht zuletzt dieses scheinbar Unvereinbare hat Nietzsche über Jean Paul vom „Verhängnis im Schlafrock“ schreiben lassen: Eine Abwehrgeste, die in wesentlichen Zügen noch die seit Ende der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts blühende wissenschaftliche Rezeption Jean Pauls bestimmt. In all den Analysen zu Sprache oder Romantechnik, zum Wesen der Ironie oder zur politischen Bedeutung spürt man immer auch die Angst vor der Lust am Text und ihren Triebkräften.

Wohin bloß sollte er mit all den Einfällen?

Es geht Jean Paul schließlich darum, Widersprüche auszuhalten und „zu verwünschen und zu vermeiden die kleine Immoralität in mir, da jede sich in fremder Wunde endigt“. Und das ist genauso universalpoetisch zu verstehen wie lebenspraktisch. Alltägliche Mühsal, Komik und Tragik bieten die Fallhöhe, die die sprachmeisterliche Überformung und Überbietung des gewöhnliches Lebens braucht, um für das Leben all derer, die davon lesen, die Bedeutung zu erlangen, die sie brauchen, um dem eigenen banalen Ungenügen souveräner als zuvor begegnen zu können.

Wenn einer wie Jean Paul gar nicht mehr zu wissen scheint, wohin mit all den Einfällen, rhetorischen Glanzstücken und Bildern, erscheint die Grenze zwischen dem Genuß des Lesers an diesem Reichtum und ermüdender Beliebigkeit mindestens ein wenig verschwommen. Man muß mit den Bildern etwas anfangen und im Gewimmel sich zurechtfinden können.

Das bedeutet freilich nicht, mutwillig Ordnung da hineinbringen zu wollen, wo Jean Paul sie eben auch nicht vorgenommen hat. „Ich weiß freilich nicht alles mehr, was ich geschrieben, aber ich weiß mehr, als ich geschrieben.“ Niemand, der jetzt Notate aus dem Nachlaß vor sich hat, die zehn Zeilen und mehr, wieder aber auch nicht einmal einen ganzen Satz abgeben, wird Pläne für nicht ausgeführte „Werke“ entdecken oder umwälzend Neues über „Hesperus“, „Siebenkäs“ oder „Titan“ und „Flegeljahre“ erfahren.

Er wird auch nicht mehr so ganz wissen, was er da bei Jean Paul so alles gelesen hat, aber ganz sicher wird er mehr wissen, als er gelesen hat. Und er wird mehr wissen wollen, wird vieles noch einmal lesen, lesen müssen: „Ich sehe nicht ab, warum ein Buch schon bei 1 Lesen gefallen oder ein Gedanke das 1 mal deutlich sein soll.“ Was man zu leicht versteht, hat keine Dauer. Und diese Spannung gegen das lesehungrige Vergessen beansprucht Jean Paul allerdings. Eine der lustvollsten Strategien, seine Leser zu irritieren, die sehnsüchtig den Ausgang der Handlung erwarten und all die sprachlichen und stilistischen Zwischenböden überfliegen, liegt eben im tadelnden Hinweis auf diese Leseautomatik, mit dem er seine Erzählungen und Romane unterbricht. „Der Witz hasset das Gesetz der Stätigkeit.“

Jean Pauls „anspielendes Spielen“ zielt nicht auf Vollendung, sondern auf Fortsetzung. Für den moralischen Anspruch, daß sich durch ein Buch ein ganzes Leben ändern kann, verlangt Jean Paul nicht die Darstellung der Welt als Totalität. Ironie durchdringt, ob finster oder hell, jeden Blick und jedes Bild. Die große Welt, die er so zeigt, ist Innenleben. „Je mehr man schreibt und von sich giebt, desto mehr lernt und beobachtet man: so dürstet man desto mehr ein, je mehr Urin abgeht.“ Die Außenwelt, zu der in der Regel auch schon alles Körperliche gehört, den eigenen Körper inbegriffen, funktioniert als Vorratskammer, in der sich nur das aufbewahrt findet, was das eigene Schreiben, die damit verbundenen Schwierigkeiten und die Motivationen, wenn nicht zu erklären, so doch zu beschreiben hilft.

Jeder der zahllosen Gedankensplitter, die Jean Paul in Exzerpten oder bei sich gefunden hat, die in Publikationen eingefangen sind oder im Berliner Nachlaß liegen, birgt in sich das, woraus andere ihre Werke verfertigt hätten. Was da an Möglichem dahintersteht, könnte auch als Drohung dienen: „Gnade Gott der Welt, wenn ich einmal ein Vehikel finde, das alles trägt, was ich ihr geben kann.“

Von der schwierigen Kunst, einzuschlafen

In einem kleinen Aufsatz über die „Kunst, einzuschlafen“, zuerst in einer Zeitung veröffentlicht, bringt er eine Fülle von Einfällen und Fundstücken als (satirische) Ratschläge getarnt, um dann in der späteren Buchfassung die scheinbar systematische Reihenfolge noch einmal stark zu erweitern. Es ergab sich wohl die Gelegenheit. „Da die Kunst, einzuschlafen, nichts ist als die Kunst, sich selber auf die angenehmste Weise Langeweile zu machen – denn im Bette oder Leibe findet man doch keinen andern Gesellschafter als sich –, so taugt alles dazu, was nicht aufhört und ohne Absätze wiederkehrt.“

Wen kümmern also all die guten Ratschläge; in das träge Einerlei, dem Jean Paul zu Leibe rückt, findet sich eine schier unendliche Ader demaskierender Bilder geschlagen, bei deren Ausbeutung er auch vor sich selbst nicht halt macht, vor dem „Bücherschreiber, dessen Innres im Bette, wie nachts ein Fischmarkt in Seestädten, von Schuppen phosphoresziert und nachglänzt, bis es so licht in ihm wird, daß er alle Gegenstände in seinen Gehirnkammern unterscheiden kann und an seinem Tagwerke wieder zu schreiben anfängt unter der Bettdecke. Dies ist ungemein verdrießlich, besonders wenn man kein Mittel dagegen weiß.“ Natürlich gibt er vor, solche zu kennen, und breitet sie auch zahlreich aus, um damit am Ende auch sein dichterisches Verfahren ironisch zu entlarven: „So schlafen Menschen über dem Leben selber ein, wenn es kaum acht oder neun Jahrzehende gedauert hat. So könnte sogar dieser muntere Aufsatz den Lesern die Kunst, einzuschlafen, mitteilen, wenn er ganz und gar nicht aufhörte.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen