: Same old Wohnung
Die Cousine war ein Bitchlein – ein unveröffentlichter Roman des jungen Samuel Beckett: „Traum von mehr bis minder schönen Frauen“ ■ Von Jürgen Berger
Peggy Sinclair war eine grünäugige Schönheit, faszinierend und quicklebendig. Dumm nur, daß sie im Deutschland der ausgehenden 20er Jahre lebte. Für eine prüde Irin wie Samuel Becketts Mutter, auch wenn es sich um Kassel handelte, der Sündenpfuhl schlechthin. Für Beckett auch, deswegen wollte er hin und den Zweig der Beckett-Sippe, der nach dem Ersten Weltkrieg aus Irland ausgesiedelt war, eingehender beschnuppern. Die Cousine hatte er kurz zuvor in Dublin kennengelernt, seine erste Kassel-Visite war der Beginn einer Serie von Deutschlandreisen, die den Hintergrund seines ersten, bislang unveröffentlichten Romanmanuskripts „Dream of fair to middling women“ bilden. Italienisch, Spanisch und Französisch sprach Beckett bereits, jetzt kam Deutsch dazu. Er war derart fasziniert von den Sprachspielen, die er in der neuen Sprache anstellen konnte, daß sich im englischen Originaltext ganze Passagen in Deutsch finden. Es tauchen Stationen wie Frankfurt auf, Personen spielen für kurze Zeit eine Rolle, ohne daß sie tatsächlich in eine Handlung eingeflochten wären. Ein gewisser „Mandarin“ dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach auf Peggys Vater zurückgehen. Die etwas ausgiebiger exponierte Madame Alba ist eindeutig auf Ethna McCarthy zurückzuführen, die tabulos und skandalträchtig durch Dublin wandelte. Beckett bewunderte die um einige Jahre ältere Frau, sie wiederum ließ den jungen Literaturwissenschaftler gewähren, der sich so trefflich über akademische Gelehrsamkeit lustig machen konnte.
Im Roman selbst bleibt ungewiß, wo Alba anzusiedeln ist. Sicher ist: Becketts Held, ein gewisser Belacqua, befindet sich im Deutschland der Weimarer Zeit, gleichzeitig aber auch überall und vor allem in seinen sexuellen Phantasien. Konkrete Handlungsstränge verweigert schon der junge Beckett. Was bleibt, ist eine Reiseroute als Kurzstenogramm. „Das Jagen nach Wien, die Flucht nach Paris, das Gelatsche nach Fulda, der Rückfall nach Dublin“. Trotz seiner vagabundierenden Phantasien ist Becketts literarisches Alter ego im Kern seines Wesens ein gesunder Phlegmatiker. Welt und Erinnerungen passieren Revue, während er wie sein Namenspatron aus Dantes „Göttlicher Komödie“ cool im heißesten Höllenkreis sitzt und lässig zusieht, wie die restliche Sünderklientel von purgatorischen Schmerzen durchschauert wird.
Eine Beobachtungs- und Erzählhaltung, mit der er vor allem die Frauen und speziell eine gewisse Smeraldina-Rima im Blick hat, die als verliebtes Wesen erscheint. Verliebt in wen? In Belacqua natürlich! Beckett wollte gar nicht kaschieren, daß es sich bei Smeraldina um Peggy handelte. Als er sie zum schmachtenden Wesen machte, stellte er die tatsächlichen Verhältnisse allerdings auf den Kopf. Oder anders ausgedrückt: Er schrieb seiner Smerry jene Liebesqualen ein, die er selbst zu leiden hatte, sobald er an die Cousine dachte. Die schrieb zwar glutvolle Briefe, spielte in Wirklichkeit aber Katz und Maus mit dem hoffnungsvollen Jungliteraten. 1929 etwa verbrachte Beckett einen erhitzten, aber unerfüllten Sommer mit der Familie Sinclair an der Ostsee – zwei Jahre später starb Peggy an Tbc, und Beckett setzte sich umgehend an seinen Schreibtisch im Pariser Hotel „Trianon“, um in großer Eile sein Romandebut zu Papier zu bringen.
Darin enthalten: ein langer, mit komischen Anglizismen und deutschen Varballhornungen gespickter Liebesbrief der Smeraldina an Belacqua, ein Kabinettstück auch in der deutschen Übersetzung von Wolfgang Held. Einen Haken allerdings hat das Ganze: Beckett übernahm den Brief aus seiner persönlichen Korrespondenz mit Peggy, was wohl ein Grund dafür gewesen sein dürfte, daß er sein Manuskript nie zur Veröffentlichung freigab. Aber der Brief kann nur einer der Gründe für die Nichtveröffentlichung gewesen sein, denn Beckett konnte selbst nicht so ganz widerstehen und verwendete die Passage noch einmal in seiner Erzählsammlung „More Pricks than Kicks“. Deidre Bair, Becketts Biographin, meint, die Familie Sinclair habe daraufhin den Kontakt abgebrochen, und der Vorgang füge sich gut in Becketts damalige Manie, „sich mit allen Menschen anzulegen, die in seinem Leben eine Rolle spielten“.
Peggys Englisch war fehlerhaft, also ist die Passage mit literarisch hochwertigen Neuschöpfungen der temperamentvollen Lady gespickt. Held übersetzt frei, was er auch muß, um den Witz des Briefes zu erhalten. Berichtet Smeraldina von einem Fünfuhrtee-Tanzvergnügen, erwähnt sie nebenbei, daß die Männer alle fünf Minuten an ihren „Kraffatten“ nestelten. Ein Detail, mit dem sie Eifersuchtsphantasien ihres „Bel“ schürt (in der Koseform läßt Beckett nicht ganz uneitel das französische „der Schöne“ anklingen), um danach eine furiose Schmerzensstory von Smerry und Bel zu inszenieren. „Tu mir um gottswillen nicht noch mal so was andeuten! Ich vergrab nur noch den Kopf in den Händen und trenke deinen Brief mit Tränen ... Bel! Bel! Wie konntest du je an mir zweiffeln? [...] Um himmelsundgottswillen sag mir strax, was genau ich verbrochen habe. [...] Bel! Bel! Meine Liebe ist so unermeslich, daß ich, wenn ich einem jungen Mann vorgestellt werde und der zu scharwenzeln anfängt, ich am ganzen Leib das Zittern kriege.“
Beruhigt dürfte der arme Bel nicht gewesen sein. Im Gegenteil. „Bitchlein“ kann er da nur noch sagen, was in der Übersetzung treffend „Biestlein“ heißt. Einiges allerdings ist nicht zu retten. Wenn Beckett „Same old Wohnung. Wunnerful to be here“ schreibt und mit beiden Sprachen spielt, kann in der Übersetzung zwangsläufig nur „Selbe alte Wohnung. Wunnerbar hier“ draus werden. Natürlich könnte man wie schon bei Joyce' „Ulysses“ eine unerquickliche Diskussion über den unübersetzbaren Roman führen. Man kann sich allerdings auch mit der weniger hochgehängten Feststellung begnügen, Becketts Phantasmagorien seien eh nur etwas für diejenigen, die vorbehaltlos in den Sprachfluß eintauchen. Und denen bietet Helds anschmiegsame Übersetzung vorzügliches Gleitmaterial.
Beckett selbst thematisiert sein literarisches Phantasieren jenseits gängiger Erzählkonventionen und baut ironisches Nachdenken über das Entstehen von Literatur ein – während sie entsteht. Das macht er in späteren Romanen zwar auch, allerdings wesentlich verkappter und metaphorischer. In „Dream“ unterbricht er etwa in der Mitte des Romans, um sich in einem längeren Intermezzo über den „Widerwillen des störrischen Materials“ auszulassen, das sich auf Teufel komm raus nicht zu einer Story fügen will. Dann fabuliert er, er könnte jetzt sofort zwei seiner Figuren zwecks Kopulation zusammenführen, winkt aber sofort wieder ab. Muß nicht unbedingt sein. Besser das disparate Material in seinem Zustand belassen und nicht zu einer stimmigen Geschichte zurechtbiegen. Obwohl. Selbst die „göttliche Jane Austen“ biege ja hin und wieder. Aber andererseits. Man sehe ja bei einem gewissen Herrn Balzac, wohin das führe. „Balzac lesen heißt, den Eindruck einer chloroformierten Welt empfangen. Er ist absolut Herr seines Materials [...], er kann das Ende seines Buchs schreiben, bevor er den ersten Abschnitt beendet hat.“ Kann man nicht widersprechen, vor allem, wenn man verfolgt, wie konsequent Beckett selbst eine völlig andere Richtung einschlägt. Sein Belacqua wird von keinem sinnsuchenden Ego getrieben, das gleichzeitig die Struktur einer Geschichte zeugen könnte, sondern gleicht einer amorphen Masse mit zwei Beinen. Beckett betreibt eine Dekomposition der Person und Auflösung in verschiedene Schichten und Selbstentwürfe. Im Hintergrund spielt mit, daß er parallel zu „Dream“ an seinem inzwischen berühmten Proust-Essay schrieb, in dem er das Individuum in eine Folge verschiedener Individuen auflöst und die reguliert/regulierende menschliche Gedächtnisleistung mit der „unfreiwilligen Erinnerung“ konstrastiert. Die sei „ein plötzliches, totales und köstliches Verbrennen“, in Prousts „Recherche“ durch die berühmte Madeleine ausgelöst. Genau so schrieb Beckett seinen „Dream“: In angedeutete Handlungen blitzen übergangslos Erinnerungsphantasien.
Als Beckett sich als 25jähriger so vehement seinen Weg zu der Literatur bahnte, die er wollte, gönnte er sich gerade eine Sturm- und-Drang-Periode. Er hatte sich aus der irischen Enge nach Paris durchgebissen, ersten Abstand zu seiner Mutter gewonnen und am Dubliner Trinity College gekündigt, wo er als vielversprechende universitäre Nachwuchskraft in Sachen Literatur gehandelt wurde. Sein Verhältnis zu Joyce wurde problematisch. Zwar öffneten sich ihm durch dessen Protektion alle Pariser Türen; nur Schreibsklave des schon zu einiger Berühmtheit gelangten Vorbilds wollte Beckett allerdings nicht sein.
Und es war bereits schon wieder eine andere Peggy im Spiel, mit der er nächtelang herumzog und die berichtet, man habe derart dem Alkohol zugesprochen, daß Beckett eines Tages beinahe in einer Drehtür zu Tode gedreht wurde. Guggenheim hieß sie. Die amerikanische Millionenerbin hatte gerade ihre erste Galerie in London eröffnet und pendelte: zwischen Insel und Festland, dem Geist der Literatur und dem Körper des Literaten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen