Notausgang aus der Psychiatrie

Das Weglaufhaus bietet Menschen, die nicht in die Psychiatrie wollen oder aus ihr flüchten, eine Alternative. Viele MitarbeiterInnen haben die Psychiatrie selbst kennengelernt  ■ Von Dorothee Winden

Eine junge Frau mit dunklen, strähnigen Haaren sitzt auf dem mit königsblauem Samt bezogenen Sofa im Wohnzimmer. Ein Mitbewohner rekelt sich in einem Sessel, eine Gitarre lehnt am Sofa. Es ist ein ruhiger, friedlicher Nachmittag im Weglaufhaus. Das Haus in der Frohnauer Villengegend ist seit Januar Anlaufstelle für Menschen, die einen Ausweg aus der Psychiatrie suchen und obdachlos sind.

So ruhig ist es nicht immer, manchmal gehen sich die Bewohner ganz schön auf die Nerven. „Es ist ziemlich anstrengend, hier zu wohnen“, stellt Mitarbeiterin Iris Hölling fest. Das Haus bietet Platz für 13 Leute. Manche müssen sich ein Zimmer teilen, mit einem wildfremden Menschen in einer Krisensituation. Da bleiben Konflikte nicht aus. Eine Frau erwies sich als so schwierig, daß die Bewohner beschlossen: „Mit der geht es nicht.“ In solchen Fällen suchen die MitarbeiterInnen nach anderen Unterbringungsmöglichkeiten.

Aber die Bewohner unterstützen sich auch gegenseitig, sei es bei der Hausarbeit oder durch den Austausch von Erfahrungen. Für eine Bewohnerin, die gerade ihre Medikamente abgesetzt hatte und körperlich geschwächt war, übernahmen die anderen die Einkäufe. Gekocht wird abwechselnd, wer gerade Lust hat. Ob gemeinsam gegessen wird oder nicht, bleibt jedem einzelnen überlassen. Heute kocht Dieter Marquardt*, aus der Küche dringt der unwiderstehliche Duft eines deftigen Bauernomelettes.

Das Team hat inzwischen Kontakte zu psychiatrischen Anstalten aufgenommen und sich dort mit seiner Arbeit vorgestellt. Zuweilen müssen sich die MitarbeiterInnen von Psychiatern anhören, sie würden „bürgerliche Psychotiker“ oder „Elitefälle“ betreuen. Gemeint sind wohl solche Bewohner, die paragraphenkundig sind und sich zu wehren wissen.

Den Elitevorwurf weist Mitarbeiterin Iris Hölling rundheraus als „Quatsch“ zurück. Von den zehn Leuten, die derzeit im Haus wohnen, kommen einige direkt aus dem Obdachlosenheim. Einer hat ein Jahr lang auf der Straße gelebt, ein anderer war in einem besetzten Haus untergekommen. Einige wollten nicht länger in der Psychiatrie bleiben. Ob das Weglaufhaus sie aufnehmen kann, hängt allerdings davon ab, ob die psychiatrische Klinik den Unterbringungsbeschluß aufhebt. Bis auf einen Fall ist das bislang gelungen.

Voneinander lernen ist Programm

Bis zu sechs Monaten können die Bewohner im Weglaufhaus bleiben. Zeit, um neue Perspektiven zu entwickeln. Unterstützung finden sie bei den 15 MitarbeiterInnen, die rund um die Uhr zu zweit anwesend sind. Die Hälfte von ihnen hat eigene Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht. „Es ist wichtig, das am eigenen Leib erfahren zu haben“, sagt Iris Hölling. „Weil es permanent darum geht: Wie bist du damals damit umgegangen?“ Voneinander zu lernen, ist Programm, ebenso wie die völlige Transparenz gegenüber den BewohnerInnen. Die MitarbeiterInnen treffen sich nie ohne die BewohnerInnen. Auch beim Träger des Projektes, dem Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt, sind etwa die Hälfte der Mitglieder Psychiatrie-Betroffene. Benannt ist das Haus nach einer der Mitbegründerinnen, der inzwischen verstorbenen Tina Stöckle.

Das Haus war dem Verein gestiftet worden. Seit 1990 hatten sich InitiatorInnen des Weglaufhauses vergeblich um Senatsgelder bemüht. Nach der jetzigen Konzeption muß bei den Sozialämtern eine Kostenübernahme beantragt werden. Eine Regelung, die oft zu langwierigen Verhandlungen führt. „Wir sind auf den guten Willen der Sozialämter angewiesen. Besser wäre eine Projektfinanzierung“, sagt Mitarbeiterin Ulrike Klöppel. Vor allem wenn die Bewohner nur ein paar Tage bleiben, versuchen sich die Sozialämter um die Kostenübernahme zu drücken.

Etliche Sozialämter stellen sich außerdem auf den Standpunkt, daß sie zwar die Obdachlosigkeit eines Antragstellers überprüfen können, nicht aber, ob er psychiatriebetroffen ist. Auch im Fall von Dieter Marquardt fordert das zuständige Sozialamt, daß der sozialpsychiatrische Dienst dies in einem Gespräch abklärt. „Die wollen mich zum Idiotentest schicken“, regt sich der 39jährige auf. Weder für ihn noch für das Team vom Weglaufhaus ist das akzeptabel. Denn der Sozialpsychiatrische Dienst der Bezirke wirke an Einweisungen in die Psychiatrie mit. Das Weglaufhaus will auf keinen Fall Teil des sozialpsychiatrischen Versorgungsnetzes sein, vor dem die BewohnerInnen gerade weggelaufen sind. Es gilt, noch Überzeugungsarbeit zu leisten.

Kontakt: 4063-2146

*Name von der Redaktion geändert