: Diepgen und Stolpe tasten zur Fusion
■ Heiße Phase der Fusionswerbung für ein gemeinsames Land Berlin-Brandenburg eröffnet. Diepgen ist optimistisch, Stolpe hält das "Rennen" für offen. Brandenburgs Religionsstreit ohne Auswirkungen
Die Wahl des Saals entbehrte nicht der Ironie. Ausgerechnet in jenem Raum, wo am 9. November 1989 SED-Politbüromitglied Günther Schabowski die Öffnung der Mauer bekanntgab, warben gestern die Regierungschef von Berlin und Brandenburg für die Fusion. In der heutigen Außenstelle des Bundespresseamtes eröffneten Eberhard Diepgen (CDU) und Manfred Stolpe (SPD) die „heiße Phase“ vor der Volksabstimmung am 5. Mai.
Während Berlins Regierender Bürgermeister Diepgen sich nach dem Besuch zahlreicher Veranstaltungen „sehr optimistisch“ zeigte, war Brandenburgs Ministerpräsident deutlich verhaltener. Das „Rennen“ sei „noch offen“. Es gebe bei vielen Brandenburger Bürgern „emotionale Vorbehalte“. Nach dem durch den Herbst 1989 ausgelösten „Wirbel der Veränderungen“ hätten viele ein „Ruhebedürfnis“. Neben dem Mißtrauen gegen Ostberlin, das als frühere Hauptstadt der DDR bevorzugt wurde, gebe es auch wechselseitige Ängste. Westberliner fürchteten, von Brandenburg umrundet, Brandenburger, von der Westberliner Politik dominiert zu werden. Skeptisch äußerte sich Stolpe gegenüber den demoskopischen Erkenntnissen aus jüngster Zeit. Er mache „ein dickes Fragezeichen“ hinter Umfragen, die eine Teilnahme von 70 Prozent der Bevölkerung an der Abstimmung prognostizieren.
Sowohl Diepgen als auch Stolpe bemühten sich, den bundesweit ausgetragenen Konflikt um die Einführung des Schulfaches Lebenskunde – Ethik – Religion (LER) in Brandenburg nicht mit der Abstimmung zu vermengen. Das umstrittene Angebot, das in Brandenburg den Religionsunterricht den Kirchen überläßt, habe keinen „unmittelbaren Einfluß“ auf ein gemeinsames Land, so Diepgen. Berlin brauche keine Sorge zu haben, daß LER dann an den Schulen unterrichtet werde. Diepgen verwies auf den Artikel 46 des Fusionsstaatsvertrages, der die „Vielfalt“ des Berliner Schulsystems auch nach einer Länderehe für die dann kreisfreie Stadt festschreibt. Dieser Punkt war während der Verhandlungen über den Staatsvertrag strittig gewesen – am Ende wurde auf Druck der CDU das in Berlin bestehende dreigliedrige Schulsystem mit Haupt-, Realschule und Gymnasium in den Vertrag hineingeschrieben. Stolpe erinnerte daran, daß Religion auch an Berliner Schulen kein Pflichtfach sei.
Sollte die Fusion scheitern, drohten „weitgehende Schwierigkeiten“, meinte Diepgen. Dann müßten rund 200 Staatsverträge ausgehandelt werden. Wie schwierig eine solche Prozedur sei, hätten die Verhandlungen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein über einen Finanzausgleich für Schulen gezeigt: 17 Jahre seien bis zur Unterzeichnung des Staatsvertrags vergangen. Severin Weiland
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