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Kaisers schwere Kleider

■ Ein ungewöhnliches Paar: Martin Schüler inszeniert, Gundula Martin baut das Bühnenbild für die Oper „Boris Godunow“

Martin Schüler, Operndirektor am Staatstheater in Cottbus, inszeniert jetzt die wohl berühmteste slawische Oper, Modest Mussorgskis „Boris Godunow“, am Bremer Theater. Er arbeitet dabei zum fünften Mal mit der Bühnenbildnerin Gundula Martin zusammen. Was bringt die beiden zu dieser, an den Theatern keineswegs üblichen Arbeitsweise einer gemeinsamen Konzeption von Regie und Bühne?

Martin Schüler: Weil ich nur in Bildern denken kann. Ich kann mir auch die sonst übliche Arbeitsweise nicht mehr vorstellen.

Gundula Martin: Ich auch nicht. In der Regel kriege ich vom Regisseur eine Vorgabe, nach der ich das Bühnenbild mehr oder weniger ausführen muß. Bei Martin werde ich einbezogen, wir fangen ein Jahr vorher zusammen an.

taz: Können Sie ein Beispiel für das Ineinander von Bühne und Szene nennen?

Martin: Als Boris seine Krone annimmt, muß er in eine Rolle schlüpfen, die auch eine Last ist. Das gestalte ich durch zu große, schwere Gewänder, die ihn zu erdrücken drohen. So etwas kann ich mir ohne Einbindung in das Regiekonzept nicht ausdenken.

Schüler: Oder unsere Raumgestaltung: In einem symbolischen Grundraum gibt es konkrete Räume. Das entspricht meiner Idee eines mythischen Rußland mit seiner ständigen Melancholie, das kann ich mir gar nicht alleine ausdenken.

Zu Boris Godunow. Welche Version bekommen wir in Bremen zu sehen? Es gibt ja drei authentische Fassungen: die von 1869, die von 1872 mit dem Polenakt und die von 1874, in der das Bild vor der Basilius-Kathedrale, in dem der Narr den Boris als Mörder beschimpft, wieder gestrichen ist. Dazu die Instrumentierung von Nicolai Rimsky-Korssakow (1896) und die von Dimitri Schostakowitsch (1959).

Schüler: Wir spielen die Fassung von 1874 in der Bearbeitung von Schostakowitsch. Die Gründe: Ich will Aufstieg und Fall des Boris darstellen, dazu brauche ich den Polenakt, in dem Boris' Sturz vom falschen Dimitri vorbereitet wird. Und die Orchestrierung von Schostakowitsch nehme ich, weil die sehr spröde Urfassung nur mit einer Besetzung von mindestens 16 Ersten Geigen wirkt. Schostakowitsch hat ja auch nur wenig verändert, eigentlich nur ein bißchen geholfen.

Was halten Sie denn von der schwülstigen Rimsky-Fassung, die ja besonders durch den großen russischen Baß Schaljapin berühmt geworden ist?

Schüler: Also ehrlich: es ist die virtuoseste, die wirkungsvollste. Sie ist allerdings eine totale Verfälschung, sie ist rampenreißerisch europäisiert. Aber sie ist so schön. Fast hätte ich sie gemacht.

Dann wüßten Sie aber, was für Kritiken kämen!

Schüler: Klar. Ich mach' sie ja auch nicht.

„Schön“ haben Sie eben gesagt. Mussorgski hat in der Kunst den Begriff der Wahrheit gegen den der Schönheit gesetzt. Was bedeutet das für Sie beide in Bezug auf die Boris-Interpretation?

Schüler: Die Figuren sind nicht vordergründig theatralisch, sondern bitter vom Leben. Boris mit seinen Kindern: Das einzige Bild der Hoffnung wird brutal zerstört. Es ging Mussorgski um die Chancenlosigkeit der Vermenschlichung.

Der Zar und das Volk: Beide sind in Not, beide spielen eine Rolle, die sie gar nicht wollen. Wo setzen Sie den Schwerpunkt?

Schüler: Bei beiden. Boris wird dem Volk entfremdet, sein Berater Schiuskij filtert alles. Dadurch wird Boris lenkbar und manipulierbar. Das Volk verändert sich nicht, es ist geschlagen, es ist geblendet und am Ende wählt es den, der die besten Wahlversprechen macht: Dimitri.

Martin: Boris ist allein, wir lassen ihn in den Abgrund fahren. Das ist mein Beitrag.

Ihre Lehrerin Ruth Berghaus hat ja viel mit Verfremdung gearbeitet, weniger die Geschichte selbst gebracht als deren szenische Interpretation. Das Stück spielt zwischen 1598 und 1605. Wo und wie siedeln Sie es an?

Schüler: Wir nutzen keine vorgeschriebene historische Zeit. Wir erzählen ein Märchen über die Macht. Und der Narr am Ende: Der ist ja nicht der Narr des Volkes, sondern er ist ein Ausgestoßener, ein Intellektueller, ich behaupte, er ist Mussorgski. Er drückt dessen tiefe Bekümmertheit über Rußland aus.

Mussorgski visierte in seiner Musik einen „realen Sprechtonfall“ an. Haben Sie Einfluß auf die musikalische Interpretation?

Schüler: Hier ja. Es ist ganz fabelhaft, wie der Dirigent Ira Levin auf mich hört und ich auf ihn höre. Das ist selten. Die Musik ist der Regiefahrplan – ganz klar. Man muß der Musik vertrauen und man muß Visionen haben.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

Premiere: Samstag, 19.30 Uhr, im Theater am Goetheplatz

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