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■ ParisAus der Ferne ganz nah

„Wie viele Stunden braucht der Bus bis nach Europa?“ fragt der Maisbauer im mexikanischen Bundesstaat Michoacan. „Die Reise dauert eine lange Nacht im Flugzeug“, geben wir zurück. „Dann seid ihr also sehr reich“, sagt er. Mein europäisches Zuhause. Je weiter es weg ist, desto näher rückt es. Mit jedem zusätzlichen Kilometer Abstand wird es vertrauter. Für die anderen – dort – ist Europa ohnehin Idealbild eines großen zusammengehörigen Ganzen. Es erklärt ihnen auch meine Hautfarbe, meine Zugehörigkeit zu einer Kultur und meine Privilegien. Ich bin gern Europäerin.

Zurück in Europa zerfällt das Ganze in seine Einzelteile: in Arme und Reiche, in Kriegsführer und Friedensvermittler, in Autoritätshörige und Demokratieerfahrene, in Franzosen und Deutsche. Natürlich gehöre ich dazu. So wie diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der „Gemeinschaft“ sind: die Schweizer, die Norweger, die Serben. Die Geographie, die Geschichte – sie lassen uns gar keine Wahl.

Zur Europäischen Union habe ich nie ein leidenschaftliches Verhältnis entwickelt. Jahrelang war ich eher dagegen. Brüssel stand für die Privilegien einer kleinen Gruppe von Europäern, für die Ausgrenzung des Rests der Welt, für die Fortsetzung des Kalten Krieges nach seinem Ende, für die Abwesenheit von demokratischer Kontrolle, für die Ohnmacht gegenüber den Kriegen nebenan und für grenzenlose Wirtschaftsfreiheit ohne soziale Garantien.

All das hat sich nicht grundsätzlich geändert. Trotzdem bin ich fürs erste froh, daß es wenigstens noch die Union gibt. Die Stimmung in Europa ist rauher geworden. Populismus und Fremdenhaß haben zugenommen. Die Europagegner rechts und links haben allerorten denselben chauvinistischen Zungenschlag. Ihre Bereitschaft, jenseits der Grenzen alte Feinde wiederzuerkennen, ist gewachsen. Mein europäisches Zuhause ist in der Krise.

„Gut für euch, daß Europa einig ist“, sagt der Maisbauer. Wir widersprechen, weil Europa sogar über verrückte Kühe streite. „Bald werdet ihr stark sein“, entgegenet er, „wie die Gringos.“Dorothea Hahn

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