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Wer rettet den Sylter Mittelstand? Von Fanny Müller

Daß das Billigticket der Deutschen Bundesbahn (Sozialismus auf Rädern) im letzten Jahr von Leuten genutzt wurde, die tatsächlich nur verreisen, wenn es tatsächlich billig ist, war eine böse Überraschung. Nicht für die Bahn, aber für Sylt. Genauer, für die Organisatoren und Nutznießer des Sylter Tourismus, die, nehme ich an, es sowieso am liebsten hätten, wenn jeder einzelne Einreisende einen Kontoauszug und ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen müßte, ehe er oder sie die Insel betreten darf.

Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe selbst drei Jahre auf Sylt gelebt und gearbeitet. Damals hatte man noch keine Sorgen mit „Chaoten“, aber es wurde schon als skandalös empfunden, daß sonntags Omis vom Festland kamen, im Unterrock in den Dünen saßen und selbstgemachten Kartoffelsalat aus alten Gurkengläsern löffelten. Das verdarb irgendwie den ideellen Gesamteindruck.

Man darf sich übrigens nicht vorstellen, daß die Insel praktisch in den Händen von Günter Sachs und, schlag' mich tot, ich kann mir diese ganzen Visagen nicht merken (wir nannten die damals aus irgendwelchen Gründen immer „Schafzüchter“), also in den Händen von Reichen und – mhm – „Schönen“ sei, die den ganzen Tag da herumhüsern. Die leben nur in ihren Ghettos, und die kriegt man überhaupt nicht zu Gesicht, wenn man nicht selbst dazugehört. Der große Teil der Touristen besteht heute aus den Gutbetuchten aus dem Mittelstand. Und der hat sich beschwert.

Was tun? Apelle an die Bundesbahn, ihre Preise heraufzusetzen, verhallten, jetzt müßte ein „Experiment gewagt“ werden. Das darin besteht, daß ein „kommunalpräventiver Gesprächskreis“ gegründet wurde, der aus Sozialpädagogen, Vertretern der Westerländer Stadtverwaltung, Sylter Unternehmerschaft, Polizei und Kurverwaltung besteht.

„Beachworker“ sollen am Hauptstrand Beratung und freizeitpädagogische Maßnahmen anbieten. Wie die genau aussehen, weiß aber keiner. Die Mehrzahl der angereisten Jugendlichen, die sich mit Randale im letzten Jahr nicht unbedingt befaßt haben, dürfte sich für eine Beratung zwecks Freizeitgestaltung jedenfalls herzlich bedanken. Und was die anderen betrifft, die immer gerne als „Mitglieder der Hamburger autonomen Szene“ bezeichnet werden – ich muß sagen, ich habe da auch im Moment keine Idee, was wohl lustiger sein könnte als Strandkörbe anzuzünden, rumzukrakeelen, zu saufen, die Westerländer First Lady auf offener Straße anzuspucken und allgemein einen schlechten Eindruck zu machen.

Nicht, daß ich nicht für mich was Lustigeres wüßte, aber nicht für diese Jungs und Mädels. Die armen Beachworker! Da fände ich es einfacher, der Gegenseite zu verklickern, daß es noch ganz andere Probleme gibt als ihre speziellen. Oder, um es mit Boris Becker zu sagen: „Es gibt noch mehr wie Tennis auf der Welt.“

Noch genialer wäre es freilich, die Normalsylturlauber zu einem Gegenbesuch, beispielsweise in die Rote Flora in Hamburg, einzuladen. Oder nach Rothenburgsort, auch ein Hamburger Stadteil, in dem es viele sportbegeisterte junge Menschen gibt. Die spielen Baseball, glaube ich. Ganz genau weiß ich es zwar nicht, aber die Schläger haben sie schon.

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