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Sonst fehlt der Seele ein Bild

Dünen aus feinstem Sand und alte, aus Holz gebaute Fischerhütten: Die Kurische Nehrung an der Ostseeküste ist ein Ort zwischen den Zeiten  ■ Von Nora Sobich

Der russische Taxifahrer wiederholt in seinem vokalverlängernden Deutsch die Frage: „Ob es noch Elcheh auf der Nehrung gibt? Ooh jaah. Hier gibt es zwölf Elcheh!“ Auch wenn diese Tiere, die für Thomas Mann so aussahen wie eine Mischung aus Rind, Pferd, Hirsch, Kamel und Büffel, von der Kurischen Nehrung verschwunden wären, hätte der 1956 in Kaliningrad geborene Russe mit „Jaah“ geantwortet. Die Vorliebe für das Ja hat nichts mit einer Nachahmung des American way of life zu tun, nach dem zugreifenden Motto: „Alles ist möglich“. Es ist eher der etwas melancholische Wunsch, daß sich nicht alle Türen schon im voraus verschließen.

96 Kilometer ist die Kurische Nehrung lang, und sie trennt das Kurische Haff vom offenen Meer. Wie eine der Küste vorgelagerte Sichel verbindet sie Klaipeda, früher einmal Memel, und die kleine Ortschaft mit dem gemütlichen Namen Cranz, jetzt Zelenogradsk. Von da aus sind es nur noch dreißig Kilometer nach Kaliningrad, dem früheren Königsberg. Die Namen der Orte werden schon wieder deutsch ausgesprochen. Ganz selbstverständlich sagt eine Litauerin an der Rezeption der „Goldenen Düne“: „Sie können ein Schiff von Memel aus nach Rügen nehmen.“ „Klaipeda?“

Das Lexikon unterscheidet zwischen vier Küstenformen: der Riaküste, dem ausgefransten Festland im Süden Irlands in der Nähe von Cork; der Schärenküste, dem Sprenkelmuster im Meer zwischen Finnland und Schweden; der Fjordküste, den steinernen Landlappen in Norwegen, bekannt geworden durch die Hurtigroute, die alte Rennstrecke der Postschiffe; dann der Haffküste, einer von den Strömungen des Meeres über Jahrhunderte aufgeworfenen Sandzunge. In den Reiseführern nennt man die Nehrungen gern Perlen, weil ihre Landschaft mit den vielen Dünen so schön und anders ist.

Das Wasser des Haffs ist reines Süßwasser. Es wird durch den Zufluß der Nemunas, Memel, frisch gehalten. Keine Wellenbewegung zerstört die tiefblaue Oberfläche. Es ist die Ruhe im Schatten der offenen Brandung. Zu Fuß braucht man nicht einmal eine halbe Stunde, um die Nehrung zu überqueren. An der schmalsten Stelle mißt sie gerade mal 400 Meter, an der breitesten vier Kilometer. Der Weg führt durch Kiefern- und Fichtenwälder, in die sich helle Birken mischen. Die Ostsee rauscht auf der offenen Seite der Nehrung mit einer solchen Kraft gegen das Ufer, daß kein Badegast schwimmt, alle stehen nackt in den Wellen. Hier sinkt die Sonne ins Meer, über dem Haff geht sie auf.

Wilhelm von Humboldt (1767 bis 1835) war so angetan von der Landschaft mit ihren Riesendünen aus feinstem Pulversand, daß er schrieb, „wenn einem nicht ein Bild in der Seele fehlen soll“, dann müsse man diese Gegend gesehen haben, genauso wie man Spanien oder Italien gesehen haben müsse. Thomas Mann, der sich und seiner Familie auf der Nehrung in dem Ort Nidden, litauisch Nida, 1929 ein Sommerhaus bauen ließ, trieb es noch bunter mit den Vergleichen. Er nannte den Hügel am Haff, auf dem seine Familie vor der Emigration nach Amerika gerade mal drei Sommer verbringen konnte, den „Portofinoblick“, sein schilfgedecktes Holzhaus war „Onkel Toms Hütte“. Sich selbst fühlte er auf der Nehrung wie in der Sahara.

In Nidden ist es anders als in den aus Stein gebauten Bädern an der Ostsee. Von den alten Fischerhäusern sind noch über fünfzig erhalten, alle aus Holz gebaut, die meisten mit Stroh oder Schilf gedeckt, viele Zäune und Zierat mit einem leuchtenden Blau bemalt. Anfang des Jahrhunderts entstand in Nidden eine Künstlerkolonie. Lovis Corinth, Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff kamen hierher.

Um das ökologische Gleichgewicht vor einem wilden Massentourismus zu schützen, wurde die Kurische Nehrung 1976 zu einem Landschaftsschutzgebiet erklärt. Obwohl die Besucherzahl, die mit eigenem Wagen anreist, offiziell beschränkt sein sollte, hält sich in der Hochsaison keiner an die Bestimmungen. Unter den Touristen sind viele Deutsche. Manche von ihnen kehren zu ihren Wurzeln in Ostpreußen zurück. Die Gästebücher in Hotels und Museen sind gefüllt mit ihren Eintragungen. „Fünfzig Jahre Sehnsucht haben sich erfüllt.“ Andere nutzen die Nehrung als ein wohltuendes Erholungsgebiet und stornieren dafür tatsächlich Costa Brava und Rimini.

Litauer können erst seit einigen Jahren wieder ohne Sondergenehmigung auf die Nehrung. Nach dem Zweiten Welktrieg hatte Rußland die Kurische Nehrung zugesprochen bekommen. Die Russen machten die gesamte Region um Kaliningrad zum militärischen Sperrgebiet. Seit Litauens Unabhängigkeit im Jahr 1991 ist die Nehrung wieder geteilt. Zwei Kilometer hinter Nidden verläuft die Grenze.

Die Russen haben eine moderne Zollstation aufgebaut. Graue Häuser mit roten Fensterrahmen um blaues Glas, so daß man nicht mehr sehen kann, wie die Seiten der Reisepässe beliebig oft hin- und hergeblättert werden. Zwei Kilometer hinter dieser Grenze steht auf der russischen Seite noch eine zweite Grenze – eine rotweiße Schranke mit gleichfarbigem Stoppschild. Drei Russen lehnen an der Schranke, und weder ein Russe noch ein Litauer kann mir erklären, was hier gewöhnlich auf einen wartet. An diesem Morgen wollen die drei Russen mit den tellerrunden Mützen, die sie so weit in den Nacken schieben, nur eine Zigarette. Die noch 200.000 Mann starke Armee im Kaliningrader Gebiet langweilt sich.

Wie ein Tunnel zieht sich die Chaussee, eingefaßt von Bäumen, über die Nehrung. Die acht Dörfer, die alle windgeschützt an der Haffseite liegen, wurden 1961 zu einer Gemeinde mit dem Namen Neringa zusammengefaßt. Neringa heißt das Mädchen mit den langen blonden Zöpfen, das nach einer Legende den Fischern die Nehrung schenkte, damit sie im ruhigen Gewässer des Haffs fischen können. Inzwischen ist das Fischen in den Monaten April bis September verboten. Wenn auch nicht mit modernem Fanggeschirr, so wird doch noch wie eh und je im Haff gefischt: Brassen, Zander und Flundern.

Der Nachbar unserer Wirtin in Nidden bringt uns in seinem Opel Ascona mit dem pastellfarbenen Anti-Geruchs-Tannenbaum am Rückspiegel und dem Playboy in der litauischen Ausgabe auf der Rückbank auf den russischen Teil der Nehrung. Seine Frau, eine ausgebildete Gynäkologin, hat vor zwei Jahren eine Fremdenführeragentur unter ihrem Vornamen – Loretta – aufgemacht. Ihr Mann, Algirdas Laurencikiene, der selbst halbtags als Psychiater im Marinekrankenhaus von Klaipeda arbeitet, ist in der Nachbarschaft als Autoschreck verschrien. Er soll so rasant fahren, daß Besucher ganz eingeschüchtert von einer Landpartie mit ihm zurückkommen. Außerdem zeige er ab und zu seltsame Veränderungen. Unsere Wirtin macht nach, wie im Winter sein Kopf hängt, weil er so trübsinnig wird.

Die Winter auf der Nehrung sind besonders für die Litauer hart. Das Heizen ist für die Balten seit ihrer Unabhängigkeit teuer geworden. Erdgas und Erdöl gab es früher frei Haus aus Rußland geliefert. Heute wird nur noch von November bis März geheizt. Die Litauer haben Angst vor einer erneuten Abhängigkeit von den Russen.

Während Laurencikiene uns mit 120 Stundenkilometern durch die Schneise im Wald fährt und ich daran denken muß, daß im Nachbarstaat Lettland jede Woche allein 60 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen, zeigt er auf die Bäume und schwärmt von dem Rauhreif an den Zweigen im Winter. Im Dorf Rossitten machen wir halt. Hier hat der Ornithologe Thienemann 1901 für die Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft eine Vogelwarte aufgebaut; die erste der Welt, die den Vogelflug wissenschaftlich untersuchte. Ein zwanzigjähriger Philologiestudent aus Petersburg, dessen Vater in der Station arbeitet, hält einen kurzen Vortrag in zartem Deutsch. Die Russen haben ein Museum eingerichtet. In einem Kasten liegt eine Sammlung von Vogelringen – große, kleine, grüne, rote, silberne. Die Aufschriften ihrer Herkunftsländer ergeben eine Aufzählung ehemals sozialistischer Länder. Helle Netze hängen, auf hohe Holzpfähle gespannt, zwischen den Dünen. Scharen von Buchfinken werden hier während des Vogelflugs gefangen, um sie beringen zu können.

Thienemann wurde 1938 in Rossitten begraben – ein geplünderter Friedhof, auf dem nur noch die alte Lindenallee in Reih und Glied steht. Grabsteine liegen verstreut und inzwischen mit Moos überwachsen im Gras. Das Grab des Vogelkundlers wurde erst in den sechziger Jahren wiederhergerichtet. Nicht weit von seinem Grabstein entfernt steht ein Holzkreuz, das an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Russen erinnert. Laurencikiene zeigt darauf und sagt: „Das ist gut. Die Idee des Kommunismus ist allerdings auch gut gewesen.“ Er lacht über sein eigenes Eingeständnis. Auf dem Weg aus dem Dorf, an der alten Dorfkirche vorbei, in der inzwischen russisch-orthodoxe Gottesdienste gehalten werden und vor deren Tür ostpreußische Heimkehrer ihrer Heimat ein Kreuz gewidmet haben, zeigt Laurencikiene auf einen leeren, gepflasterten Platz. Dort habe vor einer Woche noch eine Leninstatue gestanden. „Gucken, gucken, nicht verstehen – zappzerapp – auf Wiedersehen.“ Er singt das, als wäre es ein altes Kinderlied.

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