Urinieren im Herz des Sozialismus

■ Stephan Krawcyk, DDR-Dissident, berichtete Zotiges aus seiner Kindheit

„Aktenfrühstücke, wie sie die Spießer machen“, diese Art der Selbstbeschau kommt für Stephan Krawczyk nicht in Frage. Denn: „Von Stasi-Prosa wird man doch blöde“, sagt der ehemalige DDR-Dissident. Mittlerweile sind Kraw-czyk die eigenen Blähungen und sein beschnittener Penis wichtiger als DDR, Stasi und die Zerwürfnisse unter den Ex-Oppositionellen.

Am Freitag saß der kurzgeschorene Liedermacher zusammen mit seiner Gitarre, zwei Bandoneons und einer Flasche Bier auf der Bühne der Galerie Steinbrecher am Dobben und breitete vor 60 Zuhörern zwischen Liedern nach Texten von Borges, Vallejo, Werfel, Brecht und Krawczyk seine Intimsphäre aus. Denn darüber sei „sehr wenig in den Medien gewesen“, als Kraw-czyk und seine Frau Freya Klier 1988 in den Westen abgeschoben wurden und der Sänger als „Spiegel“-Titelgesicht bekannt wurde. Doch diese Zeit ist vorbei.

Folglich kommt in Krawczyks Programm die DDR und der seinerzeit erregt geführte Streit, ob es ehrenvoller sei, im Widerstand zu bleiben oder ins Exil zu gehen, kaum vor. Dafür erzählt der Ex-Dissident zotige Erlebnisse aus seiner thüringischen Kindheit, die im Herbst unter dem Titel „Das irdische Kind“ veröffentlicht werden.

Ob die Abenteuer beim Über-Kreuz-Pinkeln mit Bruder Hubert vor dem Abendbrot oder beim Wett-Furzen vor dem Einschlafen - „bis Plopp was Festes kam“; die Details einer mißglückten Beschneidung - „Mutter dazu: Das verwächst sich“ - und die Suche nach Madenwürmern im Hintern - „Mutter, es krabbelt“: Diese prickelnden Schilderungen ließen die Zuschauer verschämt kichern.

Doch natürlich war in der DDR auch die Kindheit politisch. Besonders, wenn der Bursche als junger Sozialist „Arbeiterlieder singend und mit Genossinnen koitierend“ nach Berlin fahren durfte. In der schönen neuen Welt der sozialistischen Baukunst am Alexanderplatz plagten ihn im Schatten des Fernsehturms wieder die menschlichen Nöte. „Wo sich entwässern? Asphalt hat keine Fugen“.

Wenn Krawczyk die DDR-Historie nicht mehr interessiert, so bewegt ihn doch noch immer der Kulturschock, der ihn ereilte, als er nach 15 Tagen Stasi-Knast in den Westen gekarrt wurde. Nie hatte er sich ein Blau vorstellen können, das so blau ist wie das Blau einer Aral-Tankstelle. Doch bleibt im Westen unter all den Reizen noch Platz für die Liebe?

Denn Krawczyk ist ein Prophet, der in der Kargheit das Wesentliche sucht, der zerstreut in seinem Manuskript blättert und auf der Bühne erstmal die Klampfe stimmt. Er singt gegen das „Wolfsgesetz der Welt“, gegen Konsumrausch im Kaufhaus – „Beutel, Du müßtest größer noch sein“– , gegen Massentourismus – „noch'n Foto in Lesotho“ – , gegen FCKW– „Komm wir reißen Fetzen aus dem Himmelszelt“ – und gegen den Zwang, dem Lauf der Dinge zu folgen – „Desertiert!“

Diese Sinnsprüche könne man dann vor sich hinsprechen, wenn man im Stau stehe und kein Autotelefon habe, sagt Krawczyk. Irgendwie ist der Mann sympathisch, nicht nur wegen seines beschnittenen Pimmels. Joachim Fahrun