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Selektiv verfolgt

■ betr.: „In der ,Fluchtburg der Ob jektivität‘“, taz vom 6./7. 4. 96

Als ehemaliger Kollege von Dietrich Staritz am Otto-Suhr-Institut scheint es mir nach einigem Überlegen doch notwendig, zu dem Artikel von Armin Mitter und Stefan Wolle über den „Fall Dietrich Staritz und Hans-Ulrich Wehler“ Stellung zu nehmen.

Als am 19. 9. 1994 der Spiegel seine Enthüllungsstory über Staritz brachte, konnte ich keine aggressive Stimmung gegen ihn empfinden: zum einen war es relativ harmlos, was die Stasi über einen Westbürger erfuhr, da war die Verfassungsschutzakte schon bedrohlicher, zum anderen hat Dietrich Staritz aus seinen politischen Grundüberzeugungen keinen Hehl gemacht. Zudem war es eine Zeit, in der Wolf Biermann die DDR als den besseren deutschen Staat anpries und in der bei den meisten politischen Richtungen, die aus der Studentenbewegung erwachsen waren, die Einsicht, daß der Zweck die Mittel nicht heiligt, aus der Mode gekommen war. Mitglieder von „antirevisionistischen“ Sekten, die Schlimmeres getan haben als Staritz, sind heute Mitarbeiter von angesehenen Wochen- und Tageszeitungen.

Dies alles soll Staritz' Tätigkeit nicht rechtfertigen. Der „realexistierende Sozialismus“ war kein Ziel, für das man Vertrauensmißbrauch oder gar Schädigung von Mitmenschen hätte in Kauf nehmen dürfen, aber ich halte es für unerträglich, daß nach über 20 Jahren Menschen selektiv verfolgt werden, weil sie in das Feindbild DDR passen.

Gänzlich unverständlich sind mir die Pöbeleien gegenüber Hans-Ulrich Wehler. Kritik kann man die Auslassungen von Mitter/ Wolle kaum nennen. Wenn Wehler den Staritz-Band in seine Reihe aufgenommen hat, dann doch nur deswegen, weil er ihn qualitativ für zureichend hält. Mitter/Wolle müßten also zeigen, daß Wehler sich irrt und Staritz' Buch wissenschaftlicher Kritik nicht standhält. Statt dessen bieten sie uns eine Mischung aus Empörung, vagen Andeutungen und leicht albernen Vorwürfen. Empört sind sie, daß Staritz seine Grundkonzeption seit 1985 beibehalten hat. Daraus lernen wir allerdings nur, daß Dietrich Staritz nicht jeden Morgen auf den Balkon tritt, um zu sehen, wie der Wind der „political correctness“ weht. Nun kann man auch zehn Jahre lang eine falsche Auffassung vertreten, und nichts wäre leichter für indigene DDR-Historiker wie Mitter und Wolle, hier konkret Tacheles zu reden. Statt dessen bieten sie uns eine populistische Mystifizierung der „DDR- Bevölkerung“. Albern schließlich der Vorwurf, Staritz habe Quellenmaterial zitiert, das schon andernorts benutzt worden sei. Gesamtdarstellungen mit handbuchartigem Charakter sind schließlich kein Enthüllungsjournalismus.

Über DDR-Geschichte lernen wir in diesem doch umfangreichen Artikel also nichts, dafür aber, und dies unfreiwillig, einiges über die Autoren. Sie sind die Reisekader der „freiheitlich-demokratischen“ Inquisition, wobei hier „freiheitlich-demokratisch“ in Anführungsstrichen stehen muß, weil ihre Position weder etwas mit Freiheit noch mit Demokratie zu tun hat, sondern immer noch von den repressiven Strukturen der DDR geprägt ist. Man kann noch Verständnis dafür haben, daß sie, als Opfer des Systems, nun ihrerseits, im Mainstream schwimmend, ihren politischen Gegnern die akademische Karriere zerstören wollen. Unverständlich ist mir allerdings, daß sie nicht verstehen, was Wehler mit der Kritik an der positivistischen Objektivität gemeint hat. Aus ihren Worten spricht nicht kritische Reflexion des eigenen Standpunktes, sondern die Tradierung des plumpen Begriffs von Parteilichkeit, der in der DDR vorherrschend war: nicht Ergebnis wissenschaftlicher Reflexion, sondern politisches a priori, das jede inhaltliche Auseinandersetzung überflüssig machte. Ich kann nur hoffen, daß Mitter und Wolle Einzelfälle sind, sonst wäre der „Beitritt“ der DDR die Heimholung eines Trojanischen Pferdes. Frank Dingel, Berlin

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