■ Lew Kopelew über den Tschetschenienkrieg und das Versagen deutscher Außenpolitik gegenüber Rußland
: „Jelzin ist ein Kriegsverbrecher“

taz: Herr Kopelew, am Montag haben die russischen Truppen mit einem Teilrückzug aus Tschetschenien begonnen, so sieht es Jelzins Friedensplan vor. Was halten Sie von dem Plan?

Lew Kopelew: Er ist ein gemeiner Aprilscherz und zeugt von der großen Hilflosigkeit dieses Staatsmannes. Jelzin verspricht, was er nicht halten kann. Der verbrecherische, mörderische und selbstmörderische Krieg, den Jelzin, Verteidigungsminister Gratschow und die Clique um die beiden vor 15 Monaten begonnen haben, dauert an. Aber man kann ein Volk nicht knechten, wenn es nicht geknechtet sein will. Die Zeit der Kanonenbootdiplomatie und der großen Eroberungen ist vorbei. Wir leben im Zeitalter von Hiroshima und Tschernobyl, im Zeitalter der Kriege, die nicht gewonnen werden können.

Jelzin argumentiert immer noch damit, daß seine Armee nur Terroristen bekämpfe.

Aber gegen Terroristen kämpft man nicht, indem man die Zivilbevölkerung vernichtet. Man kämpft nicht mit Kanonen und Fliegerbomben gegen Terroristen. Dudajew ist kein sympathischer Zeitgenosse, er ist auch so ein anspruchsvoller, despotischer und demagogischer Volksverführer. Aber wer hat ihn denn großgemacht und bewaffnet? Gratschow hat ihm vor zwei Jahren die Waffen besorgt.

Könnte Bonn mehr Einfluß auf Jelzin nehmen?

Ja, ja, ja! Heute sind alle Länder voneinander abhängig, Rußland noch mehr als früher die Sowjetunion – von der Weltgemeinschaft und der Weltwirtschaft. Mit der Verschärfung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise wächst diese Abhängigkeit. Aber die Politiker im Westen denken und handeln immer noch in den Traditionen des 19. Jahrhunderts oder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Immer spielen sie mit dem Begriff der „Einmischung in die innere Angelegenheit“. Wenn es nicht heuchlerisch ist, dann ist es nicht klug.

Wenn Jelzin jetzt über 10,5 Milliarden Dollar „Wahlhilfe“ von der Weltbank bekommt, ist das doch eine Einmischung in die innere Angelegenheit, und zwar eine schlimme. Die Rußlandhilfe darf keine Dollar-, Medikamenten- und Lebensmittelhilfe bleiben!

Was dann?

Aus Deutschland kann, soll, muß nach Rußland die große moralische Hilfe kommen. Deutschland hat eine doppelte Erfahrung, wie man von einem totalitären System ins demokratische hinüberwächst, aus dem Nazireich und aus der DDR. Die Hilfe der denkenden Menschen ist hier wichtig, weil Jelzins dumme, gemeine und verbrecherische Politik viele Menschen gegen die Demokratie aufbringt. Seine Erfahrung von Demokratisierung ist es, die Deutschland am besten liefern kann. Rußland braucht praktische Solidarität und keine Almosen.

Setzt Bundeskanzler Kohl mit Jelzin auf den falschen Mann?

Ja. Aber ich kenne auch nicht den richtigen Mann.

Was Jelzin jetzt tut, hilft Sjuganow und den sturen Altkommunisten. Leider sind die Demokraten immer noch zersplittert. Es wäre ein Wunder, könnten sie sich auf einen Kandidaten einigen, ob nun Gorbatschow oder Lebed. Am liebsten wäre mir Boris Njemzow, der Gouverneur von Nishnij-Nowgorod, ein vernünftiger, ehrlicher und ideologiefreier Mann.

Nehmen wir im Westen eigentlich ausreichend wahr, was in Tschetschenien passiert?

Überhaupt nicht. Aber über das, was wirklich passiert, wird von den russischen Behörden auch gelogen und gelogen. Jelzin spricht von glänzenden Erfolgen, dabei ist es längst eine Niederlage gegen die tschetschenischen Kämpfer, so wie es in Afghanistan eine Niederlage war. Nur ist die jetzige noch schmählicher.

Könnte die Bundesregierung mehr tun? Kohl verbindet ja eine enge Freundschaft mit Jelzin.

Was sind solche Freundschaften wert, wenn sie Jelzin den Rücken stärken für seine Verbrechen? Jelzin ist ein Kriegsverbrecher! Er und Gratschow sind schlimmere Kriegsverbrecher als die Generäle, die jetzt aus Bosnien und Kroatien nach Den Haag geholt werden.

Was müßte Bonn denn jetzt unternehmen?

Die Investitionen und Kredite müssen so geregelt werden, daß sie zielgerichtet an die notleidenden und an die zukunftsträchtigen Menschen, Organisationen, Betriebe, Gemeinden gehen. Und es muß für eine Kontrolle gesorgt werden. Die sichert am besten die russische Demokratie, die russische Presse. Aber man muß auch die Staatsorgane stärken mit kompetenten Fachleuten, freundschaftlichen Ratschlägen, vielleicht auch technischer Hilfe. Rußland gehört auch in die Nato. Das ist auch eine Sicherung gegen die verbrecherischen, selbstmörderischen Entwicklungen, die jetzt an der Tagesordnung sind.

Aber Bonn hat immer wieder betont, daß Tschetschenien eine innerrussische Angelegenheit ist.

Es gibt keine innerrussischen Angelegenheiten, weil es auch keine innerdeutschen Angelegenheiten mehr gibt. Keiner sagt doch von dem verseuchten britischen Rindfleisch, daß es eine innerenglische Angelegenheit ist. Darüber wird in der Europäischen Union schon wochenlang diskutiert, aber nicht über Tschetschenien, wo Menschen sterben.

Warum hält sich der Westen so zurück?

Warum? Es ist wie im Altertum. Wen die Götter verdammen, den blenden sie. Wie können intelligente Menschen vergessen haben, daß zwei mal zwei vier ergibt, warum wollen sie nicht sehen, was in die Augen sticht. Im Irak war man viel härter, in Exjugoslawien am Ende auch. Aber diese absolute Neutralität, diese olympische Ruhe, diese höflichen Gespräche im Stillen, wenn es um Tschetschenien geht – das ist fatal. Vor dem großen Tribunal der Weltgeschichte werden die Westmächte nicht als Zeugen, sondern als Mitangeklagte stehen.

Sie haben gerade einen Aufruf zu Tschetschenien unterzeichnet, zusammen mit Bärbel Bohley, Wolf Biermann, Rupert Neudeck, Klaus Staeck, Ekkehard Maaß und Armin Müller-Stahl. Kommt solches intellektuelles Engagement nicht auch sehr spät?

Leider ja. Aber lieber später als niemals, und noch kann Engagement dort nutzen. Noch fallen keine Nuklearraketen, und Millionen bleiben noch in den Kasernen. So ist es noch nicht zu spät.

Was sollte Helmut Kohl Boris Jelzin beim nächsten Mal sagen?

Er sollte laut sagen, daß zwei mal zwei vier ist und Zar Boris klarmachen: Du führst dein Land in die Katastrophe, deine mörderische Politik ist auch selbstmörderisch. Interview: Holger Kulick