: Das Land der Teiche und Tische
In der oft belächelten Provinz stemmen sich liebgewordene Lebensgewohnheiten und Mentalitäten gegen schrille Zeitläufte. Über gesunde Nahrung und den kulinarischen Selbstbehauptungswillen im Département Ain ■ Von Reimar Oltmanns
Hell schlagen die Turmuhrglocken der Kirche Notre-Dame in Bourg-en-Bresse. Für Momente liefern Silhouetten noch den Augenschein eines gemächlichen, romantisch verklärten Frankreichs inmitten unbeachteter Regionen. Jahr für Jahr mit Beginn der Frühlingszeit schieben sich Autokolonnen auf ihren eiligen Reisen gen Süden vorbei am französischen Département Ain im Dreieck zwischen Genf, dem Städtchen Macon und Lyon. Eine intakte Natur in abwechslungsreicher Landschaft mit Wiesen, Wäldern, Bächen, Teichen und Seen – sie bleibt schnurstracks, irgendwie vergessen, am Wegesrand liegen.
Beschaulich döst die pittoreske Altstadt von Bourg-en-Bresse mit ihrem penibel restaurierten Fachwerk und den verborgenen Innenhöfen aus dem 16. Jahrhundert vor sich hin. Am Ende der Avenue der 43.000 Einwohner zählenden Kleinstadt schält Monsieur Roland, Kellner im Restaurant „Le Français“, eine Flasche Weißwein aus dem Eis. Sie gilt es zum berühmten Huhn zu servieren – zum Poulet de Bresse à la crème et aux morilles, mit Morcheln und Sahnesauce, versteht sich. Mittagszeit. Hier, im Département Ain, ist noch das alte, stille, über Jahrhunderte gewachsene, tiefe und ländliche Frankreich zu Hause, seine Eßkultur ohnehin.
Vis-à-vis im Café du Commerce lebt nicht nur die oft belächelte Provinz auf, da stemmen sich liebgewordene Lebensgewohnheiten, Mentalitäten und Ansichten gegen schrille Zeitläufte unserer Jahre – noch. Eben ein aussterbendes Frankreich der Bistros, von denen jährlich im ganzen Land 6.000 verschwinden – um die 16 pro Tag. Hier im Café du Commerce zu Bourg-en-Bresse treffen sich noch die Männer mit ihrer Gauloise im Mundwinkel und dem Baguette unterm Arm. Wie selbstverständlich werden sie vom Patron Jacques in traditioneller Berufskluft mit weißem Hemd und schwarzer Latzschürze bedient. Schenkt Patron Jacques das Rotweinglas randvoll ein – un petit rouge etwa für Alain, wie gewöhnlich.
Das Bistro-Leben war seit jeher der klassenlose Salon, in dem sich die französische Lebensart vital in Szene setzte. Gelächter vielerorts, Palaver über die Unfähigkeit der Regierung überall, Expertisen zu Pferderennen inbegriffen; laut und kontaktnah allemal. Aber nicht nur in Frankreich brechen liebgewordene Eigenheiten jäh zusammen. Ganz nach dem Motto: „den Alten ihr Bistro und Restaurant, den Jungen ihr Fast-Food-Laden McDonald's“, sortiert sich die Gesellschaft auffallend an ihren gastronomischen Schauplätzen. „Früher brachten die Amerikaner uns das Kaugummilutschen bei“, frohlockt der Bürgermeister von Bourg, Paul Morin, „heute essen wir sogar schon in Frankreich industriell – wie chemisch gefertigt aus Plastiktüten.“ Bedächtigen Schrittes weihte Morin den dreihundertfünfzehnten Macdo der Republik ein; sie beschäftigen insgesamt 24.000 Teilzeitkräfte bei einem Jahresumsatz von fünf Milliarden Francs. Weltweit soll auf Geheiß des Unternehmens künftig alle sechs Stunden ein neues Schnellrestaurant eröffnen.
Verständlich, daß in Frankreich, im Land der feinen Küche und großen Köche, die Gourmets und Gourmands für ihre Haute Cuisine eng zusammenrücken. Und das vor allem in einer Region, die Essen und Trinken für den ältesten Kulturbeitrag der Menschheit schlechthin hält. In diesem Landstrich liefern 600 Klein- und Mittelbetriebe jährlich 1,5 Millionen hochwertige volailles de Bresse. Jenes schneeweiße Luxusgeflügel ist hier zu Hause, wo jedem Huhn nach einem Gesetz vom 1. August 1957 eine Mindestfläche von 10 Quadratmetern, eine Lebensdauer von vier Monaten in voller Freiheit und natürliche Nahrung zu garantieren sind. Zudem ist es weltweit das einzige Geflügel mit dem Siegel der Appellation d'Origine Controlée (AOC) – der kontrollierten Herkunftsbezeichnung also. Ob Hühner oder auch Truthähne – sie führen zwar nur ein kurzes, aber wohl glückliches Leben. Nur die ersten und letzten vierzehn Tage bleiben sie eingesperrt, sonst scharren sie im weitläufigen Gelände der Bresse.
Das Département Ain ist aber auch die Heimat des Karpfens, der sich in vielen hundert Teichen in der angrenzenden Dombes üppig züchten läßt. Unbestimmt verlieren sich die Blicke in dieser früheren Sumpfgegend – nur das Wasser und hier und dort ein kleines, schmuckes Dorf im Visier. Exakt 1.000 Seen auf 10.000 Hektar ermöglichen einen jährlichen Karpfenertrag von nahezu 2.000 Tonnen. Die Dombes ist Frankreichs erster Platz in der Teichfischproduktion. Nur – die essende Gesellschaft verabschiedet sich zunehmend vom natürlichen Mahl – wissenschaftlich-künstlich und chemisch-sensorisch kombinierte Industrieprodukte scheinen gefragter denn je.
Frühlingstage im Département Ain – das sind gleichsam Wochen des kulinarischen Selbstbehauptungswillens. Einmal wöchentlich schaut Meisterkoch Jean-Pierre Bouvier nach Schulschluß im Café du Commerce auf einen Aperitif vorbei. In Frankreich zählt die Geschmacksausbildung in den Grundschulen längst zum Unterricht. Und der maitre cuisinier Jean-Pierre Bouvier aus Villars- les-Dombes gehört zu den 600 Köchen, die Kindern erstmals Geschmacksnuancen einschärfen wollen. „Die können doch eine frische Ananas von einer Dosenfrucht nicht mehr unterscheiden, alles nur die Gurgel hinunterbefördern, ohne Sinn und Verstand“, urteilt Monsieur Bouvier. „Doch nur wer schmeckt, differenziert, kann wählen, auswählen, will nicht alles schlucken. Im Geschmack spiegelt sich Zivilisation wider.“
Als Meisterkoch bevorzugt der 48jährige Jean- Pierre Bouvier sein Leben auf dem Lande. Hier kann er mit seinem Sohn Grégory – auch er ist ein junger cuisinier – frische Naturprodukte auf den heimatlichen Märkten begutachten, den gerade gefangenen Karpfen sogleich bestellen. Abends im Restaurant von Jean- Pierre Bouvier in Villars-les-Dombes – zumindest hier leben noch alte Sitten und bedächtige Rituale fort. Hier wie dort, vor Jahrzehnten im Département Ain, begrüßt Madame Bouvier die Gäste, führt sie zu ihrem eigens reservierten Platz und fragt nach ihrem Befinden. Während Madame den Aperitif als Appetitanreger reichen läßt, tranchiert ihr Mann in der Küche den vor zwei Stunden gefangenen Karpfen. Sohn Grégory bereitet als Dessert frische Himbeeren zu. Er sagt: „Ich weiß auch nicht warum, aber die Menschen sind plötzlich närrisch danach“ – Frankreich im Frühling alter Eßkulturen.
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