Im Mekka der Düfte

Der Orgie mittelalterlichen Gestanks setzte Gott den Duft entgegen. Er ließ Grasse entstehen, das zur Weltmetropole des Parfums wurde  ■ Von Reimar Oltmanns

Der Blick aus der Ferne auf das südfranzösische Städtchen Grasse streift graurote Dächer und weiße Glockentürme, geht über kleine Täler hinunter zum blauen Saum der Côte d'Azur, über Orangenbäume und Pflanzenkulturen, Brunnen und Platanen. Ein Genuß surrealistischer Momente. Wechselnde Duftschwaden aus Magnolien, Rosen, Seidelbast, Veilchen, Mimosen und Lavendel begleiten die Reisenden bis in die einstige Weltmetropole des Parfüms.

Mehr als eine halbe Million Besucher zählt die Stadt. Und es werden Jahr für Jahr immer mehr Menschen, die assoziative Sehnsüchte ihrer Sinne im Hier und Jetzt erleben wollen. Unmerklich ist Grasse zu einem Parfümtempel geworden. „Stellen Sie sich vor“, sagt der Bürgermeister Hervé de Fontmichel, „viel ist von der Wirtschaftskrise, dem sozialen Druck, schließlich vom Überdruß der Reichen am Immergleichen die Rede. Aber wir hier in Grasse mit unseren 40.000 Einwohnern verzeichnen die größte Zuwachsrate an Jugendlichen, haben den höchsten Umsatz im Lande und die höchste Exportrate. Wir sind hier durch die Bank au parfum“ (auf dem laufenden).

Unaufdringlich signalisiert Grasse heitere Offenheit, eben ein Flair von Leben mit einem Quentchen Unbekümmertheit. Auf dem Place du Cours in Grasse – dort, wo die Busse einzuparken haben – steht Hostess Mireille mit einem Köfferchen. Vornehmlich an die deutschen Busfahrer hat die 23jährige Germanistikstudentin Tonbandkassetten auszuhändigen. So will es eine neuerliche Touristikregie, die es vor dem Ausstieg abzuspielen gilt. Vor den Sinnen ist die Besinnung gefragt. Aus nahezu allen Bus-Recordern tönt es frei nach Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“ unisono: „Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meisterfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Dieser Orgie von Gestank setzte Gott den Duft entgegen, und er ließ Grasse entstehen.“ Kulturelle Wendezeiten. „Voilà, hier ist das Musée Internationale de la Parfumerie.“ Und Hostess Mireille strahlt wegweisend mit einem Fläschchen „No. 5“ vom berühmten Chanel in ihrer Hand.

In einem roten Backsteinbau liegt vis-à-vis nämlich das Internationale Parfümmuseum – das Mekka der Duftextraktionen, die Heimstatt alter Flacons; essence absolute, Blütenöle, Tinkturen, Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes – ein Stück Zivilisationsgeschichte mit ihren mehreren tausend Büchern und Dokumentationen schlechthin. Mehr als 1.000 über Jahrhunderte alte Parfüms sind hier zusammengetragen worden. Auf 1.500 Quadratmetern leben Legenden verblichener Jahre samt ihrer Duftmarken ungeahnt fort. Ob das Parfüm No. 5 der Mademoiselle „Coco“ Chanel aus dem Jahre 1924 oder auch der 80 Kilogramm schwere Toilettenkoffer der im Jahre 1792 hingerichteten Königin Marie-Antoinette.

Es ist kaum zu ahnen, daß sich in diesem kleinen Städtchen der Provence ein hochkarätiges Handelskarussell in Sachen Parfüm drehte, das immerhin sechs Prozent des Weltmarktes ausmachte. In seiner besten Woche wurden zudem drei von vier im Warenverkehr angebotenen Parfüms aus den in Grasse gewonnenen Essenzen hergestellt. Seinerzeit lebten die Grassois hauptsächlich von ihrer Duftproduktion, hatten sie doch mit ihren 23 familiären Riechfabriken 50 Prozent des französischen Aromamarktes erobert.

Noch in den siebziger Jahren waren 20.000 Menschen damit beschäftigt, jährlich fast vier Millionen Kilogramm Blüten und Duftpflanzen im Pays de Grasse zu gewinnen. Pflückten auf den angrenzenden Feldern Arbeiterinnen aus Italien und Nordafrika im Billiglohnakkord Blüten, aus denen es das sogenannte „Aroma des Zeitgeistes“ zu komponieren galt.

Um etwa einen Liter Rosenessenz zu erhalten, müssen rund vier Tonnen Blütenblätter gepreßt und destilliert werden. Da wundert es kaum, wenn jene Essenzen zwischen 10 und 30.000 Mark kosten. Früher kamen die meisten Blüten aus Grasse und Umgebung.

Heute hingegen werden die Rohstoffe für die Parfümherstellung größtenteils aus Dritte-Welt- Ländern importiert; in Grasse wird allenfalls weiterverarbeitet.

Vorbei sind die Weltläufte, in denen die Nasen hochbezahlter Duftkellermeister großer Couturierdamen wie der Arden, der Rubinstein oder auch der Betrix mit ihrer Sensormotorik Geschmäcker wie Marktgeschehen diktierten. Ihre Unternehmen sind von Multis wie Unilever oder L'Oréal längst einverleibt worden. Das ehedem poetisch umschwärmte Verhältnis zwischen Blüte und Parfüm ist unwiederbringlich dahin.

Ein ausgereiftes Computersystem hat nicht nur die Dosierung der Düfte entzaubert, sondern gleichfalls auch die Wirkung der Parfümsubstanzen mitberechnet. Auch ist die Biotechnik nunmehr imstande, pflanzliche Strukturen naturgetreu zu kopieren, eben Pflanzengewebe statt ganzer Pflanzen zu züchten. Zwei Drittel der ehedem natürlichen Duftstoffbestandteile werden mittlerweile durch synthetische Substanzen ersetzt. Ein Millionenheer mit billigen, häufig überdosiert einbalsamierten Chemiekeulen läßt grüßen in Grasse und auch anderswo; neuzeitlich auch noch Parfüm genannt.

Folgerichtig wich zuvörderst in Grasse jene beschauliche Atmosphäre alter eingesessener Parfümbrennereien. Heutzutage sehen die Produktionshallen der Parfümerien wie Brauereien aus. In mächtigen, zimmerhohen Metallkesseln und riesigen Destillierkolben werden die natürlichen, noblen Essenzen aus vielerlei Pflanzen gewonnen. Und zwar für Waschpulverhersteller und Suppenproduzenten. Längst sind sie zum Hauptabnehmer der Aromastoffe geworden – und sichern somit dem Städtchen Grasse zwischen Nizza und Cannes sein wirtschaftliches Überleben.

„Zarte Düfte“, bedeutet Bürgermeister Hervé de Fontmichel, „sind zwar allzuoft erotisch, ihre Wirkung ist rational aber nicht auszumachen. Auszurechnen hingegen ist der Legendenreiz, den das Parfüm nach Grasse brachte.“ Gewiß, die aktuelle industrielle Parfümkultur ist fort. Dafür stehen nunmehr eine Kongreßhalle, Drei- Sterne-Hotels, Sportanlagen mit Golf- und Tennisplätzen, neue Schulen, erlesene Restaurants und Schwimmbäder in dem Städtchen der Brunnen und Blumenmärkte am Mittelmeer. Wenn es allein nach dem Bürgermeister ginge, so würde er demnächst eine kleine Seitengasse nach dem Erfolgsautor des Parfüms, Patrick Süskind, benennen. „Schon allein wegen der vielen deutschen Urlauber, die sich hier in ihrer sommerlichen Nostalgie nicht sattsehen und vermeintlich wohl auch nicht sattriechen können.“ Ein Quentchen Hochgefühl, ein bißchen Selbstbewußtsein als Referenz für gemeisterte Umbruchzeiten sozusagen.

Reisetip: Eine Parfümstraße führt von Grasse über Mougins, Antibes, Biot, Nizza, Beaulie, Eza, Le Turbie, Cap d'All, Monaco, Menton, Lucéram, Vence und Gourdon zurück nach Grasse. Die entsprechende Broschüre „La Route des Parfums“ ist bei Associations La Route des Parfums (Centre International de Grasse, 2 Rue Maximin-Isnerad, F-06130 Grasse) zu beziehen.