: Besuch im Reich des Todes
Der Eingang zur Unterwelt liegt mitten in Paris. In zwanzig Meter Tiefe stapeln sich die Gebeine von Millionen Toten. Und manche Kreise finden es chic, in den Katakomben Parties zu feiern und schwarze Messen zu zelebrieren ■ Von Martin Glauert
Eine enge Wendeltreppe führt steil hinab unter die Erde. Nach 90 Stufen hat der Schwindel die letzte Orientierung geraubt und benommen tritt man in einen düsteren Gang, der in den rohen Stein gehauen ist. Nur mannshoch ist dieser Tunnel, und bevor man einen Arm ganz ausstreckt, stößt er an die feuchten Wände. Von der Decke tropft Wasser, der unebene Boden ist mit lockerem Schotter bedeckt, nur gelegentlich beleuchtet eine Glühbirne notdürftig den Weg.
Ab und zu ist ein Straßenname in die Wand gemeißelt, denn die Stollen verlaufen genau unterhalb der Straßen der Stadt und tragen deren Namen. Die Oberwelt ist zum großen Teil mit Steinen erbaut worden, die hier unten herausgeholt wurden. Seit dem 13. Jahrhundert stieg der Bedarf an Baumaterial für die großen Kirchenbauten von Paris, für Herrenhäuser und Paläste. So entstanden unterirdische Steinbrüche, die wie riesige Maulwurfsgänge den Boden unter der Stadt aushöhlen.
Immer wieder kam es im Laufe der Jahrhunderte zu Unglücken, bei denen sogar ganze Straßenzüge einbrachen. Wie am 17. Dezember 1774, als die Rue d'Enfer auf einer Länge von 300 Metern einstürzte und Pferdefuhrwerke, Häuser und Menschen 30 Meter in die Tiefe hinabgerissen wurden.
Die Gänge sind eng, finster und verwirrend gewunden wie ein Labyrinth. Gelegentlich stößt man auf Metallgitter, hinter denen Nebengänge ins Dunkel führen. Aus diesen abgesperrten Stollen werden Geräusche und Gesprächsfetzen herangetragen, Echos von Stimmen. Wer ihnen folgt, kann sich hoffnungslos verirren. Solches wird Philippe Aspairt, einem Pförtner des Val-de-GrÛce-Hospitals passiert sein. Sein Schicksal läßt einen frösteln. Im November 1793 stieg er allein, nur mit einer Laterne ausgerüstet, in dieses Gangsystem hinab – und wurde nie mehr gesehen. Erst elf Jahre später fanden Vermessungsarbeiter zufällig sein Skelett. An der Decke verläuft seither eine rußschwarze Linie, die anderen Besuchern in diesen dunstigen Stollen die Orientierung ermöglichen soll.
Unerwartet steht man plötzlich vor zwei mächtigen hölzernen Säulen, die schwarz und weiß bemalt sind. Sie umrahmen eine eiserne Pforte, über der eine steinerne Platte warnend verkündet: „Halt! Dies hier ist das Reich des Todes.“
Öffnet man dieses Tor und tritt in den dunklen Gang ein, dann stößt man auf unzählige Knochen und Schädel. Sie sind dicht gestapelt bis unter die Decke. Bei diesem Anblick erschrecken die Besucher unwillkürlich. „Oh God“, stöhnt die Amerikanerin neben mir entsetzt und schlägt die Hände vors Gesicht. Kinder beginnen zu weinen, einige Besucher kehren auf der Stelle um. Andere dagegen versuchen, mit Schnurzigkeit ihren Grusel zu überwinden: „He, da liegt ja meine Oma!“ Zwischen den Beinknochen grinsen Schädel die Besucher an. Sie sind zu Mustern geordnet, meist in Kreuzform.
Bräunliche Schädel liegen neben kalkweißen, die Jahrhunderte haben die Knochen spröde werden lassen. In die feinen Ritzen hat sich eine hauchdünne Schimmelschicht gesetzt, in den leeren Augenhöhlen wächst Moos. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man in einigen Köpfen Löcher, die deutlich erkennen lassen, wie der ehemalige Besitzer zu Tode gekommen ist. Inmitten des Knochenstapels ist eine Steinplatte eingemauert mit der knappen Inschrift „Cimet. St. Nicolas 24 Août 1804“. All diese Knochen stammen von den unterschiedlichsten Friedhöfen von Paris und wurden von dort komplett hierher geschafft. Das hat allerdings einen makaberen Grund!
Mit der wachsenden Bevölkerung der Stadt im Mittelalter füllten sich auch die Friedhöfe. Zu rasch. Um Platz zu schaffen, wurden ab dem 14. Jahrhundert auf den Kirchhöfen Beinhäuser errichtet. In diese „Ossuarien“ räumte man nach abgelaufener Grabesfrist die Knochen eines Beerdigten. So wurden die Gruften wieder frei für die nächste Bestattung. Die Ruhefristen verkürzten sich jedoch mehr und mehr. Schließlich grub man auch die halb verwesten Leichen wieder aus und schaffte sie ins Beinhaus. Ein infernalischer Gestank in der Umgebung der Friedhöfe war die Folge. Wütende Nachbarn protestierten. Den Anblick halbverwester Leichenhaufen mochten die Anwohner vielleicht noch tolerieren, die stechenden Verwesungsdämpfe aber führten schließlich dazu, daß sogar die Milch in den Küchen sauer wurde und der Wein zu Essig umschlug. Zum Eklat kam es schließlich durch ein Unglück in der Rue de Lingerie im Mai 1780. Ein überfülltes Massengrab auf dem dortigen Friedhof bekam Risse und zerbarst unter seinem inneren Druck, die gestapelten Leichen überfluteten regelrecht die Keller der angrenzenden Häuser. Das war zuviel!
Auf ausdrückliche Anordnung des Königs beschloß man nun, die Knochen der Beinhäuser in die leeren unterirdischen Steinbrüche zu verfrachten – die Idee der Katakomben war geboren! Der erste Transport fand in der Abenddämmerung des 7. April 1786 statt und startete auf dem Cimetière des Innocents, dem „Friedhof der Unschuldigen“. Während die beiwohnenden Priester die Bestattungsliturgie sangen und die schwarzverhangenen Wagen segneten, warfen Knechte die Gebeine durch einen Schacht in die Tiefe. Dort wurden sie zu einer Wand aufgestapelt – mit einer gleichmäßigen und dekorativen Schädelmustern versehenen Vorderfront. Die restlichen Knochen aber warf man einfach dahinter.
So läuft man heute durch diese knöchernen Grotten und fühlt sich unwillkürlich an einen Weinkeller erinnert, nur daß statt Flaschen Schienbeinknochen sorgfältig in den Regalen gelagert sind! In den schmalen Gängen ist man den Schädeln ganz nah. Sie scheinen dem Vorübergehenden etwas zuflüstern zu wollen.
Viele Jahreszahlen an den Knochenstapeln stammen aus der Französischen Revolution, als die scharfe Klinge der Guillotine unermüdlich für Nachschub sorgte. Ihrem Blutdurst fielen schließlich selbst diejenigen zum Opfer, die sie in Gang gesetzt hatten. Und so liegen auch die Gebeine von Robespierre und Danton anonym inmitten der Millionen Knochen.
Ein Sarg erinnert an den Dichter Gilbert. Die Gedichte dieses melancholischen Poeten kreisten stets um Tod und Vergänglichkeit. Im Gegensatz zu den meisten Melancholikern, die das Schicksal mit einem langen Leben straft, starb Gilbert jung, im zarten Alter von 29 Jahren an einem Unglücksfall. Einer seiner Verse auf dem Sargdenkmal lautet: „Ich sterbe, und wie ich meiner Ruhestätte nahe, bedauert niemand mich und weint!“ Damit hat er wohl recht. Zumindest auf die fußmüden Besucher trifft dies zu, die Gilberts Sarg zum Ausruhen nutzen und dabei um einen Sitzplatz wetteifern.
Die verwinkelten, unübersichtlichen Gänge mit ihren dunklen Ecken und Steinvorsprüngen waren im Mai 1871 der Schauplatz einer tragischen und grausamen Episode der Pariser Commune. Während der Rückeroberung der Hauptstadt durch das Regiment aus Versailles wüteten in Paris erbitterte Kämpfe. Eine Anzahl verzweifelter Kommunarden suchte Zuflucht in den Katakomben. Als die Regierungstruppen alle Ausgänge verbarrikadierten, saßen die Aufständischen in der Falle. Eine mörderische Menschenjagd begann im Labyrinth der Katakomben; in den verwinkelten Gängen ging es um Leben und Tod. Nur Mündungsfeuer wird den finsteren Schauplatz erhellt haben, als Bajonette in Leiber stachen und Blut auf die Knochen und Schädel spritzte. Eine makabere Szenerie, als ob es nicht schon genug Tote hier unten gäbe!
Das weitverzweigte Netz von Stollen und Höhlen bot auch später im Zweiten Weltkrieg der französischen Widerstandsbewegung Schutz. Die Résistance verlegte ihren Befehlsstab hierher, Krankenstationen wurden aufgebaut und ein eigenes Telefonnetz verlegt. Dank ihrer Ortskenntnisse gelangen den französischen Untergrundkämpfern immer wieder empfindliche Schläge gegen die deutschen Besatzungstruppen.
Eine Krypte trägt den Namen „La Passion“. Die Wände sind mit Knochen ausstaffiert, in der Mitte des Raumes steht eine steinerne Säule, die ringsum mit Gebeinen umstapelt ist und wie ein riesiges Faß aussieht. Das Licht wirft die Silhouetten der Besucher auf die Skelette und schafft eine paradoxe Situation: Der Schatten des Lebens fällt auf die Toten!
An diesem Ort fand am 2. April 1897 die erste „Schwarze Messe“ statt. Studenten, Künstler und ehrenwerte Bürger hatten sich eingefunden, um zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh eine geheimnisvolle Zeremonie abzuhalten. Bekannt davon ist nur, daß die beiden Arbeiter, die ihre Ortskenntnisse beigesteuert hatten, fristlos entlassen wurden, als das Ereignis ruchbar geworden war. Tatsächlich gilt es auch heute noch in bestimmten Kreisen als chic, in den Katakomben bizarre Parties oder Messen zu feiern. Grufties und Drogenfreaks, Yuppies und Satanisten steigen nachts durch Gullies, die nur ihnen bekannt sind, in das Netz ein und treffen sich in stillgelegten Stollen irgendwo in diesem 330 Kilometer langen Labyrinth unter den Straßen von Paris.
Die makabre Atmosphäre dieser Krypte löst bei den Besuchern die unterschiedlichsten Gefühle aus. Bei einigen schlägt das Grauen in Albernheit um. Junge Mädchen lassen sich für das Erinnerungsfoto lächelnd vor Totenköpfen ablichten oder küssen einem Knochenmann auf die Stirn, ein cooler Jugendlicher setzt einem Schädel jovial seine Baseballmütze auf. Andere gehen schweigsam daran vorüber und werfen einen mißbilligenden Blick auf solche Szenen. Die hautnahe Anwesenheit von fast sechs Millionen Toten, mit denen man hier 20 Meter unter der Erde den knappen Raum teilt, berührt fast alle Besucher seltsam und nachhaltig. Immer wieder bleiben Einzelne vor den Knochenhalden stehen und geraten ins Grübeln. Jährlich sind es tausende von Menschen aus allen Ländern der Welt, die hier herabsteigen, um die Antwort auf eine Frage zu suchen, die sie vielleicht gar nicht bewußt gestellt haben. Was wird aus mir, wie einzigartig und wie wichtig bin ich über die Zeit? Dem nachdenklichen Besucher ist der schweigende Schädel Antwort genug.
„Ich wußte gar nicht, daß es überhaupt so viele Menschen gibt“, meint meine Nachbarin – und auch das gräbt sich ein: Nach einem Marsch von anderthalb Kilometern an Menschenknochen vorbei wird das Maß des Todes aus seiner vorstellungslosen Zahl gelöst und bekommt einen sinnlichen Eindruck, der sich nicht mehr abschütteln läßt.
Die spezielle Atmosphäre, im rein klimatischen und hygrometrischen Sinn, die hier unten herrscht, hat einmal sogar die französische Zoologische Gesellschaft zu einem Experiment herausgefordert: In einer unterirdischen Quelle setzte sie chinesische Fische aus. Der Ausgang dieses Experiments war für die gelehrten Herren enttäuschend. Die Fische pflanzten sich in dieser Umgebung nicht fort, sie erblindeten. Eine Reaktion, die sich gut nachempfinden läßt. Am Ausgang der Katakomben tritt man dann unvermittelt in den lärmenden Pariser Verkehr hinaus, geblendet von der Sonne und Wärme des Tages. Es ist, als sei man aus dem Reich des Todes wieder aufgetaucht.
Les Catacombes: 1, Place Denfert-Rochereau, 75014 Paris, Tel. 43 22 47 63; Metro- Station Denfert-Rochereau, Bus Nr. 38 und 68. Öffnungszeiten: Di–Fr 14–16 Uhr, Sa–So 9–11 u. 14–16 Uhr; montags und an Feiertagen geschlossen.
Für Menschen mit Platzangst oder Asthma ist der Besuch problematisch.
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