: Japans Jugend im Kampf gegen alte Mächte
■ Bei vielen Jugendlichen stieß Shoko Asahara nach dem Giftgasanschlag auf Sympathie: Endzeitstimmung nach dem Vorbild von Comic-Strips und Zeichentrick
Wer glaubte, der Terror-Zauber von Shoko Asahara zeige nur bei LSD-Abhängigen Wirkung, wurde bereits im vergangenen Jahr enttäuscht. Nicht mit Demonstrationen für Moral und Konservativismus reagierte Tokios Jugend auf die Sektenhysterie, sondern mit offener Sympathie für die von Polizei und Medien Verfolgten. Viele Jugendliche hatten in japanischen Comic-Klassikern wie „Akira“ oder in der Zeichentrickfilmwelt des Fernsehens ähnliche Weltbilder kennengelernt, wie sie Guru Asahara anbot.
Meistens geht es in diesen Science-fiction-Visionen um eine außerirdische Macht, die sich anschickt, die ganze Menschheit auszurotten. Dabei helfen dem Bösen durch Drogen zu Robotern entfremdete Menschen oder ähnlich manipulierte Figuren. Für das Gute finden sich dann sogenannte „Wahrheitskämpfer“, die oft zu den letzten Überlebenden ihres Volkes zählen und selbstverständlich immer einem tüchtigen Führer gehorchen. Dabei bekämpfen sich Gute und Böse regelmäßig bis auf den letzten Mann.
Shinichi Ichikawa, einer der bekanntesten japanischen Trickfilm- Produzenten, bedauert inzwischen sogar öffentlich, daß seine TV-Serien zum Verwechseln ähnliche Weltbilder wie die des Shoko Asahara widerspiegeln. Solche Entdeckungen sind auch für das Ausland beunruhigend: Comics und Trickfilme zählen zu den erfolgreichsten Exportwaren. In Deutschland erschien unlängst die 19. Folge von „Akira“ im angesehenen Carlssen-Verlag, und der Spiegel pries den Endlos-Comic seinen Lesern an. Ausgerechnet aus diesen Heften zog Asahara einige seiner originellsten Ideen: Weltuntergangswerkzeuge wie Giftdetektoren, die seine Anhänger benutzten sollten.
Vielleicht noch mehr als in anderen Ländern entspricht Science- fiction in Japan der Flucht aus der Wirklichkeit. Japanische Jugendliche müssen ihre Individualität gegen alte Mächte durchsetzen: Das Senioritätsprinzip in den Unternehmen verlangt lange Lehrjahre, alte Mütter und Väter fordern eine im Großstadtbetrieb nicht zu erhaltende Familienbindung ein. Dabei findet die Auflösung der traditionellen Familie – 20 Jahre später als im Westen – in einer allgemeinen ideologischen Sinnkrise statt. Parteien, Bürgerinitiativen und traditionelle Religionen ziehen auch deshalb keine Jugendlichen mehr an, weil die Aufbruchstimmung in diesen Organisationen längst verflogen ist.
In seinem Buch „Das Aum- Phänomen verstehen“ macht der Psychologe Shunsuke Serizawa die fehlenden Perspektiven gesellschaftlicher Veränderungen für die Zugkraft neuer Sekten verantwortlich: „Früher erlebten Jugendliche die Gesellschaft als zu eng. Heute empfinden sie sich selbst als ihr Gefängnis und beschäftigen sich mit nach innen gerichteten Fragen: Wie soll ich mich ändern?“ schreibt Serizawa. Nach seiner Auffassung gab die Aum-Sekte darauf eine Antwort, indem sie ihre Anhänger durch masochistisches Meditationstraining in die Selbstnegation trieb.
Der Buddhismus-Forscher Michio Takeda gibt dagegen eine politische Antwort auf Aum: Ängste vor Umweltzerstörung und Weltuntergang. „Es ist Zeit, daß die etablierten Religionen lernen, jungen Leuten eine positive Weltanschauung zu vermitteln“, meint Takeda.
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