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Mürrisches Strukturwissen

Hat die Soziologie ihren Gegenstand verloren? Oder ist vielmehr die Gesellschaft selbst vom soziologischen Gedankengut durchtränkt? Über die Wissenschaft von der Gesellschaft als Sprachspiel und den Soziologen als Hacker  ■ Von Dirk Baecker

Ein Themenheft der Neuen Rundschau Ende vergangenen Jahres und eine Artikelserie in der Zeit haben die Soziologie wieder ins Gespräch gebracht. Wenn man sich die Beiträge anschaut, hat man den Eindruck, daß der Soziologie vor allem vorgeworfen wird, inzwischen sei sie selbst auffälliger als das, was sie beobachtet und beschreibt. Überall stoße man auf ihre Sprache, aber nirgendwo auf Einsichten, die sie zum aktuellen Stand gesellschaftlicher Probleme beizutragen habe. Die Soziologie verwundert mehr über sich selbst als über die Gesellschaft, die sie beobachtet und beschreibt. Das ist der Sache nicht förderlich. Schließlich kann sich der Effekt der Soziologie nicht darauf beschränken, ein auffälliges Sprachspiel anzubieten. Obwohl dies in einer an neuen Formen der Prosa und Poesie armen Zeit auch bereits eine Leistung ist.

Die Soziologie ist heute hin- und hergerissen zwischen den Ansprüchen an sie selbst, die das Fach in einer noch gar nicht einmal so langen Geschichte entwickelt hat, und dem Konkurrenzdruck der Massenmedien, die schneller und dichter am Phänomen die Sahne gesellschaftlicher Beobachtungen abschöpfen. Wer sich Promotionen, Habilitationen und die Artikel der Fachzeitschriften anschaut, muß über den vielfältigen Vorbeugungen der Soziologie vor sich selbst fast verzweifeln, bis er auf irgendeine Beobachtung stößt, die etwas zu irgendeiner Sache beiträgt. Ich will nicht behaupen, daß diese Verbeugungen vor sich selbst nicht ihren Sinn hätten. Es ist die Form, in der die Soziologie ihre gegenwärtige Orientierungskrise bearbeitet. Aber ich will behaupten, daß es einen Unterschied zwischen der Bearbeitung der Krise und einer Lösung gibt. Die Lösung kann nicht direkt aus dem Problem entwickelt werden.

Auf der anderen Seite blickt die Soziologie voller Neid und Skepsis auf die Fähigkeit der Telemedien, Phänomene instantan zu begleiten und zu übertragen. Wer zwei, drei brauchbare Tageszeitungen liest und sich dabei nicht nur auf die heimische Presse beschränkt, ist über gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen weitaus besser informiert als jemand, der sich über die soziologische Fachliteratur auf dem laufenden hält. Natürlich hat die Soziologie die Fabrikation von Nachricht, Unterhaltung und Werbung in den Massenmedien längst durchschaut und auf bestimmte Techniken der Konstruktion und Bewältigung von Welt herunterbuchstabiert. Natürlich traut sie den Massenmedien nicht über den Weg. Aber kaum ein Soziologe wird leugnen, daß die Lektüre der Tageszeitung gegenwärtig unvergleichlich anregender ist als die meiste Fachliteratur. Mag sein, daß das an den unruhigen Zeiten liegt. Mag sein, daß selten zuvor eine Gesellschaft so sehr ihren eigenen Mechanismen auf die Spur zu kommen suchte, wie wir es seit Ende der achtziger Jahre gegenüber den Organisationsformen von Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Erziehung zu tun versuchen. (Aber überschätzen wir uns nicht!) Mag sein, daß es sich durchweg um „Standortprobleme“ handelt. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, daß wir seit dem Fortfall der sozialistischen Großalternative mutiger über grundsätzliche Alternativen im Detail nachdenken, als wir es vorher taten. In der Tageszeitung spiegelt sich das. In der soziologischen Fachliteratur nur selten.

Das scheint mir der Grund zu sein für die berechtigten Klagen in der Zeit. Aber die Klagen sind auch ungerecht. Niemand weiß, wie sich die Diskussion in der Öffentlichkeit, zaghaft genug, abspielen würde, wäre diese Öffentlichkeit nicht schon längst soziologisch imprägniert. Die Öffentlichkeit beginnt gegenwärtig eher den Abstand aufzuholen, der sie vom Stand des soziologischen Wissens trennt, als daß sie die Soziologie hinter sich lassen würde. In diesem Spiel ist die Öffentlichkeit der Hase, der den Dingen hinterherrennt, und die Soziologie der Igel, der immer schon da ist. Natürlich hat die Soziologie keines der großen Ereignisse, die uns beschäftigen, vorhergesagt. Zur Vorhersage ist sie konstitutionell nicht in der Lage. Dazu ist sie nicht aufgeregt genug. Ihre Stärken liegen in einer Art mürrischem Strukturwissen. Sie ist mürrisch, weil sie weiß, wie groß der Anteil des Nichtwissens an ihrem Wissen ist und wie wenig dieses Nichtwissen an ihren Einsichten in die Mechanismen des Sozialen zu ändern vermag. Aber diese Einsichten lassen sich im nachhinein und nur im nachhinein unschwer als Diagnosen der Unvermeidbarkeit dieser großen Ereignisse lesen.

Die kritischen Argumente gegen die Soziologie laufen in dieser vornehmlich von Soziologen geführten Diskussion (hört noch jemand zu?) darauf hinaus, daß die Soziologie nicht mehr das Aufklärungswissen liefert, das sie seit Auguste Comte und bis hin zu Helmut Schelsky geliefert habe. Wann habe die Soziologie in jüngerer Zeit ein Bild entworfen, in dem die Gesellschaft sich wiedererkennen könne? Wann habe sie eine Kritik entwickelt, auf die man sich in der Gesellschaft gegen die Gesellschaft berufen könne, wie dies zuletzt der Frankfurter Schule gelungen sei? Wie komme es, daß man sich von kaum einem soziologischen Buch vorstellen kann, daß es eine Leserschaft gibt, die es ungeduldig erwartet? In jüngerer Zeit gab es allenfalls Überraschungserfolge wie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ oder Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“.

Mir scheint jedoch, daß das Problem der Öffentlichkeit mit der Soziologie eher darin liegt, daß die Soziologie ihr nicht die griffigen Beschreibungen liefert, die sie sucht. Man weiß nicht, was man damit machen soll, wenn Niklas Luhmann die Ökologie der modernen Weltgesellschaft beschreibt, als handele es sich um ein von der Gesellschaft gefährdetes Biotop. Man weiß auch nicht, wie man sich zu Jürgen Habermas verhalten soll, wenn dieser der Kraft des Arguments mehr Reichweite zubilligt, als jemals in einer konkreten Situation erfahrbar ist.

Was treiben die Soziologen? Sind sie vollständig akademisiert, verführt und befangen in ihren universitären Lebensstellungen? Hat es ihnen die Sprache verschlagen angesichts einer Gesellschaft, deren Selbstthematisierung in den Massenmedien, aber auch in Institutionen und Organisationen soziologisches Niveau aufweist, auch wenn dies nicht beim Namen genannt wird? Haben die Soziologen das Vertrauen in ihr Überbietungsvermögen verloren? Sind sie kleinmütig geworden? Wollen sie sich davonstehlen aus einem Gegenstand, der sich von der Art und Weise, wie er beschrieben wird, nicht mehr unterscheiden läßt und daher gar nicht mehr erfassen läßt?

In der Tat, es ist eher der Verlust der Soziologie als der Verlust der Gesellschaft, um den die Soziologen trauern. Das „perfekte Verbrechen“, das Jean Baudrillard beschreibt, der traurigste aller Soziologen, ist ein Selbstmord. Das Instrument, mit dem das Verbrechen vollbracht wurde, ist die Dekonstruktion der Unterscheidung zwischen der Gesellschaft einerseits und ihrer Beschreibung andererseits.

Es wird Zeit, sich nach einem neuen Selbstverständnis der Soziologie umzuschauen. Der Soziologe kann nicht mehr der Aufklärer und Kritiker sein, der sich auf Sondereinsichten beruft, die anderen nicht zugänglich sind. Er wird eher dem Bild des Intellektuellen entsprechen, das Michel Foucault einmal entworfen hat: einer, der sich unpassend einmischt und aus der Reaktion auf ihn Informationen über den Sachverhalt gewinnt.

Wenn man sich jedoch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche im Zusammenhang der soziologischen Fachdiskussion anschaut, drängt sich der Eindruck auf, daß weder Aufklärer noch Kritiker, noch Intellektueller eine treffende Beschreibung des Soziologen sind. Noch ist es nicht soweit, aber es deutet sich an, daß der Soziologe am ehesten als Hacker zu beschreiben sein könnte und daß in der Diagnose und Variation von Codierungen seine kommenden Aufgaben liegen. Das sollte man nicht mit der Steuerungseuphorie der fünfziger und sechziger Jahre verwechseln. Dahin führt kein Weg zurück. Vielmehr handelt es sich um eine punktgenaue Analytik von Konstruktionen des Sozialen, die über den Anteil der Dekonstruktion an der Konstruktion und umgekehrt Bescheid weiß. Das Ausgangstheorem ist die Unwahrscheinlichkeit der Ordnung, nicht etwa ihre Gestaltbarkeit. Die Schwäche der Diskussion in der Zeit liegt darin, daß sie über die Brisanz dieser soziologischen Positionierung auch nicht andeutungsweise informiert.

Schaut man sich zum Beispiel an, was Niklas Luhmann seit mehr als dreißig jahren vorschlägt und entwickelt, dann handelt es sich dabei um eine sowohl kategorial als auch phänomenal detailliert ausgearbeitete Theorie sozialer Codierungen. Nicht ganz so lange arbeitet Harrison C. White an einer Netzwerktheorie sozialen Handelns, die auf nichts empfindlicher reagiert als auf Formen der Entkopplung und Verknüpfung sozialer Phänomene. Im übrigen läßt sich fast die gesamte klassische Soziologie Werner Sombarts, Max Webers, Georg Simmels und Emile Durkheims als Theorie der Ausdifferenzierung gesellschaftliche Phänomene nicht aus der Gesellschaft, sondern in die Gesellschaft lesen, also als Theorie der Ausdifferenzierung und Wiedereinbettung. Das gibt auch den neuen Entwicklungen eine

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unbezweifelbare soziologische Prägnanz.

Bruno Latour, um ein drittes Beispiel zu nennen, sekundiert diesen Entwicklungen, indem er vorschlägt, nicht mehr in scheinbarer Konkretheit von Rollen, Handlungen, Kommunikationen, Akteuren und Institutionen zu reden, sondern generell von „Objekten“, deren Konstitution, Reproduktion, Isolierung gegenüber anderen Objekten und Verknüpfung mit anderen Objekten Gegenstand der Soziologie ist. Die Kategorien, mit denen diese Objekte erforscht werden können, sind ihrerseits Objekte, die auf ihre Reproduktion und Variierbarkeit hin erforscht werden können. Die Soziologie selbst ist ein solches Objekt – und nicht das uninteressanteste.

Eine solche Sprache erinnert an die Ansätze zu einer objektorientierten Programmierung in der elektronischen Datenverarbeitung. In der Tat werden in der Soziologie Querverbindungen zur Welt der Computer gesucht. Man ist fasziniert von dieser Welt. Und man ist davon überzeugt, daß die „Informatisierung“ der Gesellschaft, ihrer Organisationen und der Netze zwischen den Organisationen ein Phänomen von weitgehend unabsehbarer Tragweite ist.

Dieser Ansatz einer Untersuchung von Objekten auf der Grundlage ihrer Auskopplung, Codierung und Wiedereinbettung hat Ähnlichkeit mit dem Verfahren des Hackers, wie es die Science-fiction-Literatur von William Gibson bis Neal Stephenson populär gemacht hat. Alles kommt als Objekt in Frage, der Geheimcode der Datenspeicher einer großen Bank oder weltweit operierenden Terrororganisation ebenso wie reflektierte und unreflektierte Entscheidungsprämissen in Organisationen, pathologiefördernde Emotionaltechniken in Familien und Informationsblockaden von Politikern. Das Verfahren ist sehr überraschungsfreundlich. Es entwickelt kein Weltbild, um zusammenzupassen, was einstweilen nur die Form heterogener Ereignisse hat. Aber es rechnet mit Strukturen, die von den Objekten selbst zur Sicherung ihrer Konstitution und Reproduktion gesucht werden.

Man interessiert sich nicht mehr für die Visionen einer ganz anderen Gesellschaft, sondern man fragt sich aus vielfach gegebenem Anlaß, wie man das, was man macht, anders machen könnte. Dazu muß man allerdings wissen, was man macht und wie man es macht. Dieses Wissen ist nur in wenigen Fällen vorhanden. In jedem Fall ist es wesentlich schlechter entwickelt als die Immunreaktionen, die zielsicher und häufig endgültig Alternativen im Keim ersticken, wenn sie sich blicken lassen. Aber wenn unsere Gesellschaft, und auch dies aus gegebenem Anlaß, in irgendeinem Punkt sich selbst nicht mehr traut, ohne freilich zu wissen, was dafür ihre Alternativen sein könnten, dann sind das ihre Immunreaktionen. Die Gesellschaft, erzwungenermaßen, zeigt einen neuen Mut zur Irritation und Selbstirritation.

Es könnte sein, daß sich herausstellt, daß das sogenannte „Sprachspiel“ der Soziologie bei der Reflexion auf das Objekt des Sozialen und seine Codierungen unverzichtbar ist. Es fängt die Irritationen auf in einer Reflexion auf die Irritation. Es hält Ungewißheit aus. Es ist konstitutionell mürrisch, das heißt unaufgeregt. Vielleicht stellt sich einmal heraus, daß die unverständliche Dichtung des 19. Jahrhunderts mit ihrem erst später verstandenen Interesse an der inneren Unendlichkeit des Individuums in der unverständlichen Soziologie des 20. Jahrhunderts und ihrem Interesse an Kommunikation und Kultur des Sozialen ihre Entsprechung hat.

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