: „Wir werden in die Sozialhilfe getrieben“
■ 6.000 Menschen trugen in Vegesack den Vulkan zu Grabe / Scherf: Noch Chancen
Mit beiden Händen umklammert die ältere Frau ihre Brotdose. „Hier“, sagt sie zu ihren Mitstreiterinnen von der Vulkan Frauengruppe „Brot und Rosen“ und hält ihnen die Dose mit den Schwarzbrotstücken hin. „Hab' ich für Euch mitgebracht, damit ihr Brot habt, das Ihr Euch teilen könnt...“ Tränen rinnen über ihre Wangen. „Verdammt, ist das alles eine Scheiße“, schluchtzt die Frau und stampft mit dem Fuß auf. Eine der Frauen legt ihr den Arm um die Schulter und drückt sie an ihre Brust. „Wird schon wieder“, flüstert sie und klopft der Weinenden auf den Arm. In der anderen Hand hält sie ein hölzernes Kreuz. „VULKAN *1804 bis 1996“ steht in schwarzer Farbe darauf.
Rund 6.000 Menschen sind gestern nach der Nachricht vom Konkurs des Vulkans zur Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) nach Vegesack gekommen. 73 Tage haben sie gezittert und gebangt. Jetzt tragen sie ihren Betrieb zu Grabe. „Mein Mann meinte, ich solle kein Kreuz tragen. Die Regierung hätte doch schließlich was erreicht“, erzählt die Vulkanesen-Frau. „Aber ich sehe das nicht so. Die Arbeiter sind nur verschaukelt worden. Das ist alles.“
Helga Ziegert hat zwischenzeitlich das Wort ergriffen. Sie schreit etwas von „der Ausblutung des Sozialstaates“ ins Mikrophon. Doch die meisten Männer, Frauen und Kinder, die über den Sedan-Platz verstreut stehen, können die Worte der DGB-Vorsitzenden nicht hören. „Diese Sabbelei nützt uns doch sowieso nichts“, faucht ein Vulkanese. Seit 35 Jahren arbeitet der Schweißer bei der Werft. Bis Juni hat er jetzt noch zu tun, damit das Passagierschiff Costa II und die zwei Containerschiffe pünktlich ausgeliefert werden können. Was danach kommt, weiß er nicht. „Mit unserer Unterschrift haben wir ja auf alles verzichtet“, zuckt der 52jährige mit den Achseln. „Sie haben Nerven, mich zu fragen, was ich heute empfinde. Ich fühle mich beschissen.“ „Einen auf die Lampe kippen würde ich mir gerne“, pflichtet ihm sein Gegenüber bei. 25 Jahre war er beim Vulkan. Zuletzt als Gabelstapler-Fahrer. „Da hängt man doch an dem Betrieb.“
Langsam setzt sich die Menschenschlange in Richtung Vulkan-Werft in Bewegung. Die vielen ernsten Mienen lassen die Demonstration tatsächlich eher aussehen wie einen Trauermarsch. Nur einer geht voran und lacht: Bürgermeister Henning Scherf (SPD). Auf seinen Schultern trägt er die fünfjährige Virginia, Tochter eines Vulkanesen. „Das ist meine neue Freundin“, strahlt Scherf und winkt den Schaulustigen hinter ihren Wohnzimmerfenstern zu. Ab und an balanciert er mit der Kleinen durch die Menge an den Straßenrand und schüttelt Hände. „Als wenn der in den letzten Wochen nicht schon genug Show gemacht hätte“, zischt eine Frau. „Mein Mann ist auf Kurzarbeit. Wir haben drei Kinder. Der soll mir mal lieber erzählen, wie ich meine Rechnungen bezahlen soll.“
„Wir werden langsam aber sicher in die Sozialhilfe getrieben“, fürchtet auch Schiffbauer Helmut Schwarze (40). Der Vater von fünf Kindern hat 23 Jahre für den Vulkan gearbeitet. Chancen auf einen neuen Job rechnet er sich nicht aus. „In meinem Alter wird das schon schwierig. Außerdem, hier in der Region?“
„Eine Region steht auf. Eine Region will leben. Eine Region will arbeiten“, prangt in schwarzen Lettern auf dem T-Shirt von Björn Weichert. Sein Vater arbeitet als Schlosser beim Vulkan. Doch es ist nicht nur die Angst vor der drohenden Arbeitslosikeit des Vaters, die den 16jährigen Schüler auf die Straße treibt. „Wir bekommen doch keine Lehrstellen mehr“, fürchtet er.
Nach und nach strömen die Demonstranten auf den Platz vor den Toren der Vulkan-Werft. „Rückt noch näher zusammen. Es stehen immer noch Leute auf der Straße“, schallt es immer wieder durch den Lautsprecher. „Zusammenrücken ist gut“, raunt ein Mann. „Auf der Straße stehen auch“, ergänzt die Frau neben ihm.
Etwa eine halbe Stunde später ergreift Ex-Betriebsratschef Hasso Kulla das Wort. „Ich hätte mir noch vor einem Monat nicht vorstellen können, daß ich mal nach einer Beschäftigungsgesellschaft schreie“, brüllt er ins Mikrophon. Kulla wurde gestern – wie alle anderen Betriebsräte – in Kurzarbeit geschickt. „Die letzten Tage waren die Hölle, das wünsche ich keinem Feind. Ich habe viele weinende ... Kollegen gesehen, und mir geht's jetzt auch so“, schnieft Kulla. Seine Stimme versagt. Doch seine Wangen bleiben trocken. Zwei Sekunden später schmettert er wieder.
Henning Scherf steht unterdes vor dem Rednerpult – umringt von einer Schar Vulkanesen-Kinder. Am Revers des Bürgermeisters prangt Donald Duck. „Wir kämpfen“, steht über dem Kopf des Comic-Helden auf dem Button. Als Scherf wenig später die Tribüne besteigt, drückt er Hasso Kulla an sich. „Wir werden Euch unterstützen. Das verspreche ich Euch“, ruft Scherf der Menge zu. Er sehe noch eine Chance für die Werften. „Wir werden es nicht zulassen, daß Bremen gegen Bremerhaven ausgespielt wird.“ Pfiffe. „Es ist monatelang nichts passiert“, schimpft ein Mann laut. „Wir sollen stillhalten, bis wir arbeitslos werden.“ „Arbeiterverräter“, krakelt ein anderer Mann dazwischen. „Ich bin hierhergekommen, um der Veranstaltung zum Durchbruch zu verhelfen“, schreit Scherf zurück und nennt die aufmüpfigen Demonstranten „Störenknechte“. Etwas abseits von dem Geschehen steht Renate Möbeus und hält ihren neunjährigen Sohn Matthias an der Hand. Sie hat noch zwei Kinder. „Fünf und 20 Jahre alt“, erzählt sie. Ihr Mann war beim Vulkan in der Disposition – jetzt ist er „auf Kurzarbeit“. Von 2.000 Mark netto im Monat muß sie jetzt die Familie ernähren. „Wie das gehen soll, weiß ich zwar noch nicht. Aber es wird gehen“, sagt sie. „In einem Vierteljahr gibt es vielleicht schon bessere Vulkan-Konzepte“, hofft Renate Möbeus. „Man darf die Hoffnung nicht aufgeben – schon wegen der Kinder nicht. Was ist denn ein Leben ohne Hoffnung?“
Kerstin Schneider
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen