: Stoffetzen mit Nummern
■ In Riga wird heute das Museum „Juden in Lettland“ eröffnet. Seine Entstehung verdankt es der Zähigkeit des Ghettoüberlebenden Margers Vestermanis
Vielleicht kommt der lettische Minister für Kultur, vielleicht aber auch nicht, eventuell der Oberbürgermeister von Riga, aber auch dies ist nicht sicher. Sechs Jahre, nachdem die Republik wieder unabhängig wurde, ist es immer noch schwierig, über die Juden von Lettland zu reden; über die, deren Überreste im Wald von Rumbula, am Strand von Libau, im kurländischen Moor und an Orten, die niemand mehr kennt, verscharrt sind.
In Lettland wohnten vor 1939 etwa 100.000 Juden, nicht mehr als 1.000 von ihnen überlebten das Morden. Die Täter waren nicht nur Deutsche in SS-Uniform, sondern auch lettische Hilfspolizisten, Freiwillige, angestachelt von einer nationalchauvinistischen antisemitischen Intelligenz.
Aber dies ist im Ostseestaat ein gern vermiedenes Thema. Der 72jährige Margers Vestermanis, – ehemaliger Häftling im Ghetto von Riga und im KZ Kaiserwald, bei einem Arbeitseinsatz entflohen und „Waldbruder“ geworden bei Partisanen im Kessel von Kurland – kann darüber viele Lieder singen. Vor sechs Jahren gründete er das Jüdische Dokumentationszentrum in Riga. Der gelernte Historiker tut seitdem, was unter sowjetischer Herrschaft jahrzehntelang als zionistische Propaganda verteufelt war.
Deshalb ist heute für Margers Vestermanis ein ganz großer Tag. Ein Tag, dem er über fünf Jahre entgegenfieberte, für den er jahrelang bis zur Erschöpfung arbeitete. Er hat viele Aufsätze über die jüdische Kultur seines Heimatlandes geschrieben, die nur in Deutschland und den USA, aber nie in Lettland erschienen sind. Er hat geforscht über seine „Jidn“ und oft für sie die für die Rente notwendigen Nachweise über KZ-Aufenthalte aus den Archiven gefischt.
Und heute nun wird im ehemaligen Jüdischen Theater, jetzt Sitz der Gemeinde und der jüdischen Schule in Riga, endlich das Museum eröffnet, das ohne Margers Vestermanis' widerspenstigen Mut nie zustandegekommen wäre.
Es sind nur ein paar Räume im dritten Stock des Hauses, aber das, was dort zu sehen ist, sind die letzten dokumentarischen Zeugnisse einer über 400 Jahre andauernden jüdischen Geschichte in Lettland. Nicht nur wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg ausgerottet, sondern auch das jüdische Kulturgut zerstört. Und das Wenige, was übrigblieb, wurde von den Sowjets vernichtet. Als Margers Vestermanis vor sechs Jahren anfing zu suchen und zu sammeln, erklärte man ihn für verrückt. Er wolle doch nicht etwa leere Räume ausstellen. Aber Margers Vestermanis blieb stur, denn „kann man den Opfern des Rassenwahns besser gerecht werden, als durch die Erinnerung an ihr früheres Leben und Wirken?“
Knapp 6.000 Dokumente, Bücher, Manuskripte, Fotos, Gegenstände des säkularen und religösen Lebens, Stoffetzen mit KZ-Nummern und im Ghetto gezeichnete Porträts hat Margers Vestermanis gefunden und sie für die Ausstellung zu Themenschwerpunkten systematisiert. Sie zeigt die Wunderrabbis von Lettgalen und die aufgeklärten, das städtische Judentum prägenden Rabbiner. Sie zeigt die Architekten, die den berühmten Jugendstil in Riga erfanden, und die Geigerin Sarah Raschina, die von der belgischen Königin ausgezeichnet und 1941 von den Nazis erschossen wurde. Sie zeigt die einfachen Leute mit ihren Kindern und Kindeskindern, die nie erwachsen wurden. Und sie zeigt die „Judenretter“, die es auch in Lettland gab.
Aus der Papiermühle gerettete Thorarollen
„Alles, was im Museum zu sehen ist, ist aus der Erde gegraben“, sagt Vestermanis. Zum Beispiel der Chanukkakreisel mit eingedrechselten hebräischen Buchstaben. Er ist ihm gebracht worden von einem lettischen Bauern aus dem Dorf Sazkmaken in Kurland. Früher lebten dort nur Juden, seit 1941 nicht ein einziger mehr. Oder die Thorarollen, die irgendjemand in den fünfziger Jahren aus einer Papiermühle rettete. „Jeder Gegenstand hat seine Geschichte“, erzählt Vestermanis, und er erzählt sie gern – in fünf Sprachen, wenn es sein muß.
Aber nicht nur die Entstehungsgeschichte dieses Museums aus dem Nichts heraus ist unvergleichlich für ganz Mittel- und Osteuropa, auch die politischen und finanziellen Umstände, durch die das Museum realisiert wurde. Denn im Unterschied zu den jüdischen Museen im litauischen Wilna, in Budapest oder gar in Prag wurde es – abgesehen von einer einmaligen Spende von umgerechnet etwa 5.000 Mark – nie vom Staat unterstützt.
Eher wurde es gegen einen Staat durchgesetzt, der sich bis heute für die Verbrechen, die auch lettische Bürger während der Zeit des Nationalsozialismus begangen haben, nie entschuldigt hat, und gegen eine Gesellschaft, die überwiegend für das Leiden der Juden kein Verständnis hat, weil sie sich selbst als Opfer der sowjetischen Fremdherrschaft begreift.
Das Geld, das Margers Vestermanis für die Restaurierung der Räume, für Glasvitrinen, Bilderrahmen, Reproduktionen und Halogenlampen brauchte, kam und kommt aus dem westlichen Ausland. Von Privatleuten wie Hermann Kuhn von den Grünen aus Bremen, von Oberkirchenrat Rolf Krapp aus Göttingen, von ein paar Deutsch-Balten. Sie alle unterstützten das Museumsprojekt, als außer Margers Vestermanis noch niemand an eine Realisierung glaubte. Und später war es dann die „Memorial Foundation for Jewish Culture“ in New York, die einsprang, und zum guten Schluß noch für ein, zwei Jahre, die „Soros-Foundation“, ohne die kein jüdisches Projekt in Osteuropa denkbar wäre.
Verglichen mit den Hundertmillionen Mark, die in Berlin für den Libeskind-Bau ausgegeben werden – für ein bald fertiggestelltes jüdisches Museum, bei dem immer noch unklar ist, was einmal drin sein wird – hat das Museum „Juden in Lettland“ wirkliche Größe. Ein Mensch ist erst dann tot, wenn auch die Erinnerung an ihn gestorben ist, heißt es im Talmud. So gesehen ist das Museum kein toter, sondern ein sehr lebendiger Ort. Anita Kugler
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